Bauchzerschlitzende Messer

Peter Dinzelbacher präsentiert eine Tour d’Horizon über fantastisch-fantasierte Weltuntergänge

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Diktum des Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996), es sei »immer ein Bedarf an Weltuntergang da«, lässt sich auch an der schier unüberschaubaren Literatur ablesen, die sich dem Thema widmet. Der schmale Band, den der Historiker Peter Dinzelbacher jetzt diesen Regalreihen hinzufügte, sei deshalb allen empfohlen, die sich knapp, kurzweilig und kompetent informieren möchten über einen dubiosen Drang, der wesentlich herrührt aus dem »Verlangen nach Entlastungen, das jeder hat, der mit seinem Leben nicht fertig wird oder zu werden glaubt« (Blumenberg).


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* Peter Dinzelbacher: Weltuntergangsphantasien und ihre Funktion in der europäischen Geschichte.
Alibri. 210 S., br., 17 €.


Dinzelbacher untersucht die Einbettungen und Einlassungen, unter denen sich das von Martin Heidegger zur Conditio humana erklärte »Sein zum Tode« des Individuums zum Paradigma des kollektiven Menschheitstodes erweitert. Dabei werden die Elemente des mythologisch-monströsen Fundaments derlei destruktiven Denkens von der Antike bis in die Aktualität betrachtet.

Zwischen der von der römischen Kirche kanonisierten Offenbarung des Johannes und den »Left Behind«-Romanen der US-Autoren Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins liegen fast 2000 Jahre. Doch das apokalyptische Muster ist das gleiche: Die Welt zerbricht, versinkt, ertrinkt in Chaos, Feuer und Zerstörung. Das desaströse Debakel trennt Hell von Dunkel, Gut von Böse, füllt am Ende der Zeiten Himmel und Hölle mit dazu von Gott und seinen Heerscharen Bestimmten.

Ob es das Ragnarök der nordischen Mythologie ist, das »Dritte Reich« des mittelalterlichen Geschichtstheologen Joachim von Fiore, die literarischen Reisen des Mystikers Emanuel Swedenborg in die Ab- und Aufgründe der Jenseitswelten oder der Hype um den Maya-Kalender und das Jahr 2012 - das Interesse an der totalen Destruktion ist ungebrochen. Die ins Extrem erhobene existenzielle Wurzel solch gigantomanischer Gier hat wohl keiner besser beschrieben als Hans Blumenberg: »Ein einziges Leben definiert sich seinen Sinn gerade dadurch, dass es zu sein beansprucht, wonach nichts mehr kommen darf.«

Der individuelle Weltuntergang, der unvermeidlich für jeden Menschen kommt, ist zweifellos eine der größten Kränkungen, mit denen fertig zu werden eine intellektuelle Anstrengung impliziert, die im wahrsten Sinne des Wortes ungeheuer ist. Und Menschen zu Ungeheuern machen kann. Wie Hitler, der sein eigenes Ende im Wahn des Kollektiven wähnte: »Wir können untergehen, aber wir werden eine Welt mitnehmen.«

Dinzelbacher spart den Ex-tremfall Hitler aus, beschränkt sich auf die eschatologischen Klassiker, die das den letzten Dingen immanente Religiös-Rigorose durchaus in katastrophischer Katharsis hypostasieren können: Selbstmordsekten, Sonnentempler, von Kometenfurcht und Satanswahn besessene Gruppen. Dem Autor gelingt es, auf 200 Buchseiten eine Tour d’Horizon über die politischen, philosophischen, psychologischen und pathologischen Aspekte, Ansichten und Ausblicke des Endzeitdenkens zu präsentieren. Eine Einladung, sich mit Einzelnem der dystopischen Spiegelungen näher zu befassen. Beispielsweise mit den großartig-schrecklichen Gebilden, mit denen Literatur und Malerei dem durch Harmagedon oder andere Schrecknisse Verheerten zu Anschauung und Nachvollzug verhalfen. So in den verstörenden Werken William Blakes (1757-1827; nach dessen Bild »Der große Rote Drache und die Frau, mit der Sonne bekleidet« übrigens der Roman »Roter Drache« von Thomas Harris um einen psychopathischen Mörder betitelt ist). Oder in Hölderlins »Bücher der Zeiten« von 1787. Auf dessen gleichsam blutgetränkten Seiten ertönt »Wütendes Schmerzgeschrei / Der Geschlachteten über dem / Bauchzerschlitzenden Messer«.

Dass die katholische Kirche der Kraft ihrer eigenen Apokalyptik nicht mehr recht traut, machte sie in der Liturgiereform von 1969 klar. Damals verschwand aus der Totenmesse das »Dies Irae« (Tag des Zorns, des Weltgerichts). Dieser Hymnus, hieß es begründend, habe die Leuchtkraft des Auferstehungsglaubens verdunkelt.

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