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Karriere einer spröden Halbinsel

Während Nostalgiebesucher nach Wustrow kommen, ist die künftige Nutzung unklar

  • Katrin Lechler, Rerik
  • Lesedauer: 6 Min.
Auf der gesperrten Halbinsel Wustrow lebten 45 Jahre lang Sowjetsoldaten - nun kommen sie als Touristen zurück. Zusammen mit »Urdeutschen«.
Heimwehtouristen reisen gen Osten. Sie fahren in teuren Autos vor und sind den Einheimischen suspekt. Im Ostseebad Rerik in Mecklenburg-Vorpommern kommen die Nostalgiker aus östlicher Richtung und heißen Wladimir, Dima oder Andrej. Sie waren einst als sowjetische Soldaten auf der Halbinsel Wustrow zwischen Rostock und Wismar stationiert.
Zwölf Kilometer lang und 2,5 Kilometer breit ist die Landzunge. Wer nach Wustrow will, muss über Rerik fahren. Der kleine Badeort, der gemeinderechtlich zu Wustrow gehört, liegt an der einzigen Landverbindung, dem Wustrower Hals.

Sozialreformerische Architektur
Rund 140 000 Armeeangehörige haben hier zwischen 1947 und 1993 geübt, gehorcht, gegessen und geliebt. Der Dienst in der sowjetischen Armee war berüchtigt, doch der Blick auf das blaue Meer und den weißen Sand muss die Uniformträger mit vielem versöhnt haben. Auf der einen Seite der Halbinsel liegt das flache, brackige Salzhaff, auf der anderen die weite Ostsee.
Das Besondere dieses Erdzipfels aber ist die Gartenstadt. Großzügige, helle Wohnungen fand die Sowjetarmee hier vor, als sie 1947 ihren Dienst antraten. Die 90 Häuser waren nach dem Vorbild der sozialreformerischen Gartenstadt-Architektur von Heinrich Tessenow (1876-1950) angelegt worden, hatten fließendes Wasser und Balkone. Einige besaßen Zentralheizung. In der winzigen Inselstadt standen ein Kino, eine Kläranlage, das damals modernste Schwimmbad Deutschlands und sogar eine Kegelbahn.
»Für die Russen bedeutete das eine ganz neue Lebensqualität: fließendes Wasser und Gärten«, erzählt Klaus Feiler aus Rerik. Er hat zusammen mit seiner Frau Edelgard ein Buch geschrieben (»Die verbotene Halbinsel Wustrow - Flakschule, Militärbasis, Spionagevorposten«) und ist Anlaufstelle für Besucher aus dem Osten geworden. Der ehemalige DDR-Polarforscher schätzt, dass er Tausende Besucher über Wustrow geführt hat, darunter viele frühere sowjetische Offiziere. An einen kann er sich noch genau erinnern: »Als in den 90er Jahren der Sand auf dem Wustrower Hals nach Munition durchsiebt wurde, standen drei Erwachsene und ein Mädchen am Zaun. Einer sagte: "Ich war 1952 Offizier auf Wustrow." Später ist er in sein altes Haus gegangen und hat geheult.«
Klaus Feiler (Jahrgang 1944) erzählt gern. Eine Anekdote jagt die nächste, gesammelt während seiner zehnjährigen Tätigkeit als Wanderführer über Wustrow. Die Touren über die einst verbotene Insel haben dem Wissenschaftler eine neue Existenz beschert. Für ihn gibt es drei Gruppen von Heimwehtouristen: die »Urdeutschen« aus den 30er Jahren, die Flüchtlinge aus dem Osten zwischen 1945 und 1947 und die Russen nach 1945.
Die »Urdeutschen« waren Mitarbeiter und Angehörige der größten Flak-Artillerieschule des Deutschen Reiches. 1933 verkaufte der letzte Besitzer von Wustrow, Hans von Plessen, die Insel an die Wehrmacht. Diese errichtete innerhalb von fünf Jahren große Kasernenanlagen, einen Flugplatz, kleine Häfen und die Gartenstadt Rerik-West. Nach dem Krieg zogen Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten in die Häuser ein.
Nur zwei Jahre später, 1947, mussten sie die Insel räumen. Die Sowjets sprengten alle militärischen Gebäude, darunter drei Flugzeughangars und eine Werft, bauten Fahrzeug- und Lagerhallen sowie Kasernen. Wustrow wurde für fast 50 Jahre militärisches Sperrgebiet. Panzer walzten auf ihrem Weg nach Neubukow so manchen Zaun nieder, erinnert sich Klaus Feiler. Um zehn Uhr morgens erschien der erste Düsenjäger aus Ribnitz-Damgarten am Himmel, begleitet von Schießübungen, die bis zum Abend dauerten. Um die Satellitenbilder der Alliierten zu täuschen, ließ die Sowjetarmee auf dem Gelände 20 Flugzeugattrappen und einen Tower errichten. Von Wustrow aus hörten die Funkeinheiten den westlichen Sektor ab. Es entstanden aber auch ein Kino, eine Schule und ein Krankenhaus.

Mitten im Satz abgebrochen
Der Befehl zur Heimkehr muss ganz plötzlich gekommen sein: In dem kleinen Häuschen an der Anlegestelle auf der Haffseite fand Klaus Feiler einen Brief, der mitten im Satz abbricht, die Jacke hing noch an einem Haken in der Baracke. Es sind Bilder wie diese, die die Faszination der Halbinsel ausmachen: eine alte Glastür im Stil der 1930er Jahre, ein Wandbild im Stil des sozialistischen Realismus im Tower, die Ruine des alten Gutshauses, das fast zugewachsene Kopfsteinpflaster der Hindenburgstraße.
Die Freude der Reriker über »ihre« wiedergewonnene Halbinsel währte nur kurz. Erst durfte sie wegen der enormen Belastung mit Sprengstoff und Munition nicht betreten werden. Dann wurde das Eiland gegen den Willen der Anwohner an den Immobilieninvestor Fundus aus Köln verkauft. Für zwölf Millionen Mark - ein lächerlicher Preis angesichts der 15 Millionen Mark teuren Sprengstoffräumung durch den Bund, sagt das Ehepaar Feiler. Doch Rerik hatte Schulden und konnte keine Bankbürgschaft wie die Fundusgruppe aufbringen.
Durch ihren finanzstarken Nachbarn kamen die Bewohner des einstigen Fischerdorfes rasch in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit an. Zäh wurde um die Bebauung des Landzipfels gerungen, erst gemeinsam, später nur noch mit aufgestellten Hörnern. »Die Fundus-Pläne sehen statt der bisherigen 90 Häuser nun 180 vor, mit Ferienwohnungen bis 200 Quadratmetern«, empört sich Klaus Feiler, der die jungen amerikanischen Architekten aus Miami in der Anfangsphase beriet. Außerdem sollen 150 Einzel- und Doppelvillen entstehen. Strittig sind nicht nur die Anzahl der Häuser und ein Yachthafen für 240 Boote, sondern auch die Zufahrt. Der ruhige Badeort befürchtet, von einer Blechlawine überrollt zu werden.
Ein weiterer Streitpunkt: der 27-Loch-Golfplatz mit Golfhotel auf der gesamten Fläche des Landschaftsschutzgebietes der Halbinsel. Durch den enormen Bedarf von etwa 60 Millionen Liter Wasser pro Jahr befürchten die Reriker Wasserknappheit in ihrem Ort. Zudem ist die Förderkapazität auf der Insel begrenzt, da die Brunnen sonst Salz aus dem Meer ziehen. Kritisch sehen die Anwohner auch den Einsatz von Düngemitteln. Teile der Halbinsel, des Haffs und der Ostsee liegen im Europäischen Vogelschutzgebiet. 25 der 88 Brutvogelarten stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Arten.

Nach dem Muster Heiligendamm
Solange es kein schlüssiges Verkehrskonzept gibt, lehnen die Reriker das Vorhaben ab. Und da sie gemeinderechtlich zu Wustrow gehören, haben sie die Planungshoheit. »Blanke Willkür«, hält Fundus-Geschäftsführer Johannes Beermann dagegen. Die Investorengruppe hat ihrerseits das Betreten der Halbinsel verboten. Sie hält an dem Konzept fest: »Ein 27-Loch-Golfplatz gehört zum Standard, sonst fehlt die nötige Attraktivität«, so Beermann. Die Investorengruppe pflegt ein Luxus-image. Nach der Wende erwarb sie die meisten Gebäude des Ostseebades Heiligendamm und schuf eine elegante Hotelanlage. »Heiligendamm ist eine echte Jobmaschine«, so Beermann. »Mit 250 Arbeitsplätzen und 60 bis 70 Azubis sind wir der größte Arbeitgeber in der Region.«
Die Gartenstadt Wustrow ist inzwischen fast verrottet. Für die meisten Gebäude kommt jegliche Renovierung zu spät. Dafür gedeihen Flora und Fauna ungestört. Und die Besichtigungen der Insel boomen weiter, wenn auch vom Schiff aus. »Mein größter Wunsch wäre es, dass der Schiffsmotor kaputt geht«, seufzt Klaus Feiler ins Mikrophon, »dann könnten wir auf der Insel zurücklaufen«. Wenn er zu einer Tageswanderung einlädt, darf er nur durch das Naturschutzgebiet der Insel gehen, nicht durch die Gartenstadt. Vor dort aus können Wustrow-Fans zumindest einen sehnsüchtigen Blick auf den ehemaligen Tower werfen.

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