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Chinas »neue Normalität«

Auf dem Nationalen Volkskongress wurde der Abschied von zweistelligen Wachstumsraten verkündet

  • Lutz Pohle, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.
In Peking ist die Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses zu Ende gegangen. 3000 Abgeordnete diskutierten über die von Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang ausgerufene »neue Normalität«.

Die fünfte Generation der Führung Chinas seit 1949 regiert seit 2013. Zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang war eine erste Zwischenbilanz fällig. Die Tagung des Nationalen Volkskongresses, des chinesischen Parlaments, jedes Jahr im Frühjahr ist traditionell die Bühne, auf der die Führung ihre Regierungszeit abrechnet. Der Premier beschreibt die Situation mit dem Begriff »neue Normalität«. Drei der behandelten Themen zeigen, wie schwierig dieser neue Prozess ist: Das Wirtschaftswachstum in China wird auf sieben Prozent (und vielleicht noch weniger) zurückgehen, der Kampf gegen die Korruption soll fortgesetzt werden und die Umweltzerstörung muss beendet werden.

Letzteres hat durch einen Film eine neue, multimediale Dimension bekommen. Unter dem Titel »Unter der Glocke« stellte die bekannte Journalistin und junge Mutter Chai Jing die Frage, wie ihr Kind in einem von Smog und Dreck geplagten China aufwachsen soll. »So möchte ich nicht leben«, sagt die Autorin. Und so soll auch ihre Tochter nicht leben müssen, womit sie offensichtlich den Nerv sehr vieler Mitbürger traf. Wohl noch nie hat ein Dokumentarfilm über ein Umweltthema innerhalb weniger Tage rund 100 Millionen Aufrufe im Netz und noch mehr Kommentare in den sozialen Medien bekommen. Die chinesische Presse berichtete ausführlich, die internationale Presse griff das Thema auf, der neu ernannte Umweltminister gratulierte per SMS.

Auf der Suche nach den Ursachen des Smogs blickt der Film auch hinter die Kulissen des chinesischen Wirtschaftswunders. Er zeigt die unheilvolle Verquickung von Politik und Wirtschaft, die im Interesse ihres eigenen Vorteils, der ambitionierten Wachstumsziele und des Profits nur allzu gern teure Umweltvorschriften ignoriert oder umgeht. Der Chinakenner Jürgen Kahl spricht von einem »robusten Interessenkartell« von lokalen Funktionären und der Wirtschaft, das im Zweifel bestehende Gesetze und Auflagen ignoriert oder nach eigenem Gutdünken auslegt. Einige Tage später, als der Volkskongress begonnen hatte, verschwand der Film von Chai Jing jedoch plötzlich wieder aus dem chinesischen Internet. Der Film hatte soviel Aufmerksamkeit erregt, dass wohl befürchtet wurde, dass die Berichterstattung über den Volkskongress darüber unterzugehen drohte.

So wie viele Chinesen hoffen, dass das Umweltzerstörer-Kartell zerschlagen wird, so findet die laufende Kampagne gegen die Korruption im Lande breite Zustimmung. Nach offiziellen Angaben sind allein im Jahr 2014 mehr als 70 000 Mitarbeiter nahezu aller Ebenen und Bereiche der Partei, der Regierung, der Armee und Polizei aus ihren Ämtern entfernt, versetzt, disziplinarisch belangt und/oder an staatliche Gerichte übergeben worden. Belangt und bestraft wurden Funktionäre aller Ebenen, vom früheren obersten Sicherheitschef der Partei über den Vize-Generalstabschef, Minister, Gouverneure und Parteifunktionäre. Präsident Xi wird nicht müde zu sagen, dass er weder die »Fliegen« (kleinen Kader) noch die »Tiger« (mächtigen Funktionäre) schonen will. Ob die Kampagne Teil der »neuen Normalität« wird oder nur die innerparteilichen Gegner von Xi ausschalten soll, ist offen.

Die auf dem Volkskongress verkündeten wirtschaftlichen Fakten zeigen den Ernst der Situation: Nach über 30 Jahren Wirtschaftswachstum von immer über zehn Prozent sind die angepeilten rund sieben Prozent Wachstum Kern der »neuen Normalität« von Li Keqiang. Was westliche Politiker zu Jubel hinreißen würde, ist für die meisten Chinesen neu. Die jüngere Generation Chinas hat nichts anderes als ununterbrochenes rasantes Wachstum erlebt. Den seit den 60er/70er Jahren des letzten Jahrhunderts Geborenen und ihrem Land ging es irgendwie immer besser. Zugegeben, heißt es landläufig, manchen geht es heute eben sehr, sehr viel besser, anderen nicht ganz so viel. Fragt man die einfachen Menschen, so bekommt man immer wieder zu hören, dass die KP Chinas das neue China 1949 gegründet und aus Armut, Unterentwicklung und Abhängigkeit herausgeführt und zur international anerkannten, zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht hat. Deshalb werde sie auch die heutigen Probleme lösen. Diese Überzeugung zieht sich auch durch den Bericht der Regierung an den Volkskongress. Gleichzeitig macht Li Keqiang aber auch sehr deutlich: Obwohl der chinesische Staat immer noch über vergleichsweise komfortable Reserven verfügt, gehört zur »neuen Normalität«, dass die Einnahmen zurückgehen, die Rücklagen geringer werden.

Unterm Strich, so lautet die unausgesprochene Botschaft, bleibt weniger zum Verteilen. Und das in einer Zeit, da alte ungelöste soziale Probleme, wie etwa die Situation der 260 Millionen Wanderarbeiter und -arbeiterinnen, mit neuen Herausforderungen zusammentreffen: China muss dringend seine Wirtschaft umbauen, weg von der billigen Massenproduktion für den Export hin zu mehr Effektivität und High-Tech. Die Kaufkraft und der Konsum von inländischen Gütern müssen gestärkt werden, nach außen müssen chinesische Unternehmen konkurrenzfähig für den Weltmarkt werden. Gleichzeitig drängen die Umweltfragen. Korruption und Verschwendung müssen bekämpft werden. Die Bildungs- und Gesundheitsreform müssen vorangebracht, eine Altersversorgung für die schnell alternde Bevölkerung aufgebaut, Land- und Wasserknappheit überwunden oder die Energieversorgung umgebaut werden. Das sind aber nur einige der Probleme, die die »neue Normalität« Chinas ausmachen.

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