Kapital, das Kopf und Herz bewegt

Am Freitag beginnt das 16. Poesiefestival

  • Lesedauer: 5 Min.

Ist die Poesie in Krisenzeiten eine andere als in ruhigen Zeiten?

Es ist immer die Frage, von wo man schaut. Aus der Vogelperspektive und mit zeitlichen Abstand wird man sicherlich Veränderungen sehen. Was das Gedicht vor allen mal politischer macht und mal weniger, sind aber in dem Moment seine Rezipienten, also die Leser und Hörer.

Das diesjährige Poesiefestival steht unter dem Stichwort »Kapital«, es geht unter anderem um den Reichtum der Sprache und in den Sprachen. Aber »Kapital« ist ja nicht nur einfach ein Schatz im monetären oder ökonomischen Sinn. Was ist »Kapital«, poetisch betrachtet?

»Kapital« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet erst mal »Kopf« und »Herz« und »bewegen«. Das ist »Kapital« ursprünglich. Und in der Tat ist es auch so, dass Sprache Kapital ist. Aber wie geht das mit Poesie zusammen? Das scheint ein Widerspruch zu sein - so etwas Ätherisches wie Poesie und diesen Kernbegriff dieses Hier-und-Heute-Kapitalismus zusammenzubringen. Kapital ist dann gut, wenn es zirkuliert. Und das soll auch die Poesie auf einem Festival. Und wenn man Sprache nimmt und Poesie als die Kunstform der Sprache, dann wird sie heute dauernd behandelt wie ein Orchideenfach, das im Kapitalismus niemand braucht. Und dagegen steht auch das Poesiefestival, das größte in Europa.

Neben dem Schwerpunkt China ist Martin Luther ein Thema des Festivals. Eine große Ausstellung mit dem Titel »Aufs Maul geschaut«, widmet sich dem Kirchen-, aber auch Sprachreformator. Wie poetisch war Luther?

Es läuft ja die Luther-Dekade, die vom Bund ausgeschrieben ist oder zelebriert wird. 2017 ist dann der Höhepunkt. Luther wird in dieser Dekade vor allem aus religiöser Sicht betrachtet. Aber er hat auch versucht, das, was er sagen wollte, so bildkräftig zu machen, dass es überall verstanden wird. Mit so wunderbaren Worten wie »taubstumm« oder »Augenweide«. Wir inszenieren acht Begriffe, die von Luther stammen oder von ihm aufgenommen wurden, wie »Alles hat seine Zeit«, »Das Brot brechen« oder eben auch »Dem Volk aufs Maul geschaut«.

Sie betrachten am kommenden Sonntag auch »Die Poesie der Religionen«. Also Christentum, Judentum und Islam. Was macht die Religionen poetisch?

Haben Sie je eine Predigt gehört oder ein Gebet gehört? Dabei wird auch streng in Formen gearbeitet, da finden Sie poetische Strukturen. Wir stellen diese drei Religionen und ihre Ausdrucksweisen einmal nebeneinander, gleichberechtigt, um sie ganz einfach vom Ästhetischen her zu betrachten. Wir wollen die Religionen zugänglich zu machen über ihre »gemeindebildenden Maßnahmen«, also Gebete und Predigten, die auch ästhetische Gebilde sind - und so ihre Botschaften vermitteln.

Bei dieser »Poesie der Religionen« werden die Texte übersetzt. Aber bei der schon traditionellen Nacht der Poesie, »Weltklang«, mit Dichtern aus aller Welt, da lassen Sie die Texte explizit nicht übersetzen?

Akustisch wird es nicht übersetzt, sondern der Sprachenklang allein soll akustisch wirken. Das ist ja auch ein gedichtbauender Zusammenhang - und ein unglaubliches künstlerisches Kapital. Für mich ist Dichtung viel dichter an Musik denn an Prosa dran. Und neueste Hirnforschungen haben ergeben, dass Poesie in der Hirnregion verarbeitet wird, wo auch Musik und das Glücklichsein zu Hause sind. Man kann die Übersetzungen aber lesen, sie werden in einem Buch gereicht.

Also entzieht sich die Poesie der Ratio?

Das ist ja das Schöne an Gedichten. Es sind ja Hybride, sie sind eigentlich ein Alles: Weil sich die anderen Künste im Gedicht wiederfinden. Also die Klanglinien, die zur Musik gehen, die Rhythmuslinien, die zum Tanz gehen, die Bildlinien, die sofort ins Theater und in die bildenden Künste gehen.

Wie wirkt das Festival in die Stadt?

Da ist die Poets’ Corner am Sonnabend, dort arbeiten wir mit den Kulturämtern einiger Berliner Bezirke zusammen, die das auch finanzieren: In die Bezirke werden Dichterinnen eingeladen und sie veranstalten dort eine Lyrikveranstaltung unter freiem Himmel. Und am Ende gibt es einen Lyrikmarkt - mit Lesungen, Performances, Bands. Es gibt auch jeweils Kinderprogramme und Workshops für Lehrer.

Sie zitieren im Programm die kanadische Dichterin Lisa Robertson, die Denken als »eine Form des politischen Handelns« beschreibt, »das sich innerhalb der Grenzen unserer Sprache vollzieht«. Nun ist ja nicht jede Poesie politisch, aber das Poesiefestival greift viele politische Themen auf - wie mit dem »Eilbrief an Europa«.

Wir haben Dichter aus verschiedenen Ländern Afrikas gebeten, sich einmal über ein Kettengedicht zu verständigen. Und in diesem sagen sie: Nehmt uns endlich ernst. Weg mit diesen großen Kinderaugen. Wir haben auch etwas zu sagen, wir haben etwas mitzubringen, wir haben auch Reichtum, wir haben auch Kapital. Und natürlich steht in diesem Brandbrief auch, dass auch Europa zuständig ist für die Armut, dass die Märkte kaputtgemacht, dass die Meere leergefischt werden, auch unsere Verantwortung hier wird angesprochen.

Sie besprechen auch die »Zukünfte der Dichtung«. Was ändert sich denn momentan so in der Produktion und in der Rezeption von Poesie?

In der Distribution von Poesie schon einiges: Es gibt die Abkehr vom Buchdruck, internetgestützte Lyrikarchive. Darüber hinaus verändern sich natürlich auch Produktionsformen. Das Digitale und auch das zunehmend Multilinguale der Umwelt, das zum Hier und Jetzt der Dichter gehört, wird ihr Material. Und geht dann durch den Dichter und wird wieder zu Dichtung verdichtet. Da sind ganz viele Sachen in Bewegung, es gibt nicht nur eine Zukunft, sondern eine Potenzierung von Möglichkeiten. Auch Kapital, das gehoben werden und fruchtbar gemacht werden sollte.

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