Der rettende Traum

Burg Beeskow zeigt Zeichnungen von Dieter Goltzsche zur Literatur

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ohne Träume würden wir gewiss früher alt«, weiß Heinrich von Ofterdingen, den Novalis in die Welt hinausschickt, jene blaue Blume zu suchen, die Inbegriff der romantischen Sehnsucht ist. »Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden unbekannten Gegenden.« Wo diese fernen Gegenden liegen? Ganz nah und doch nie ganz zu greifen: auf dem Grunde der eigenen Vorstellungskraft.

Daher auch der besondere Zusammenklang von Dichtung und Bild bei Dieter Goltzsche, der die Worte vor Augen weiterträumt, so lange, bis jene Bilderwelten erstehen, die ganz aus »Zeichen und Tönen« gemacht sind. Davon kann man sich unendlich viele Bilder machen, einundzwanzig solcher träumerischen Momentaufnahmen finden sich in der vom Buchverlag Der Morgen 1986 herausgegebenen Ausgabe von Novalis »Heinrich von Ofterdingen«. Die Ausgabe und die Originalgraphiken dazu sind, neben anderen zahlreichen Malerbüchern Goltzsches, in der Ausstellung »Zeichnungen zur Literatur und Künstlerbücher« zu sehen, die den Schaffensnerv Dieter Goltzsches treffen: seine Liebe zu Büchern und ihren Autoren.

Weil dem inzwischen Achtzigjährigen diese wild-zarten Verwandlungsträume von Buchstaben in Bilder immer noch tagtägliche magische Rituale sind, stellt er - Novalis’ Traumwegweiser folgend - dem Alter jene Jugend entgegen, die er sich täglich neu erwirbt: im Spiel mit Linien, Formen und nicht zuletzt auch Materialien. Denn Goltzsche bastelt sich unaufhörlich seine kleinen Welten, die er dann wie eine Flaschenpost auf Reisen schickt.

Wer je einen Brief, oder auch nur eine Postkarte von ihm bekam, manchmal genügt ihm eine vorgedruckte Einladung zu einer Ausstellung, der findet darauf immer die Spuren von Goltzsches schier unstillbarer schöpferischer Lust. Da werden Fotos bemalt, beklebt, beschrieben, kommen seltsamste und immer unterschiedliche Materialien zum Einsatz, glatte wie raue, denn die Fingerkuppen haben Augen und Ohren. Wenn man besonderes Glück hat, dann kommt auch ein Farbkasten zum Einsatz, und auf der Rückseite eines bereits verschlossenen Briefes ist mit wenigen Strichen und Klecksen ein Aquarell hingetuscht. Kaum ein Buch gibt er aus der Hand, das er sich nicht zuvor mit Pinsel, Kugelschreiber und Schere anverwandelt hätte. Goltzsche hält so die Schöpfung im Kleinen in Gang - und sich selber jung dabei.

Die Beeskower Ausstellung zeigt den passionierten Leser Goltzsche, der beginnt, den Büchern, die er liebt, zu antworten - auf seine unverwechselbar poetische Weise mit ihnen eine Wanderung beginnt: Ziel unbekannt, aber immer ins Offene gehend, Grenzen dabei spielend überschreitend.

Goltzsches Visionen, die sich aus kunstvoll montierten Worten (Dichtung!) speisen, drängen nie zur Tat, im Gegenteil: Sie unterlaufen eine Welt, die aus zu viel Tat und zu wenig Traum gemacht ist. Sie bleiben bevorzugt kleinformatig, wollen Miniaturen einer Gegen-Welt sein, die sich jeder trivialen Verwendungsfähigkeit entzieht. Diese Kleinwelten, die aus Dichterworten gebaut sind, haben viele Kammern. In ihnen wohnt Wundersames, nicht Nützliches.

Also gehen wir von Blatt zu Blatt, Buch zu Buch, Traum zu Traum. Allein die Zahl der Werke zu vermerken, die Goltzsche Anstoß für Zeichnung gaben, monochrom oder farbig, sprengte den Rahmen dieses Textes. Aber beliebig ist es nicht, im Gegenteil: In fast allen wohnt jener Lichtfunke, mit dem dann das imaginierte Bild des Wortes der Buchstabenansammlung voranleuchtet. Eine Laterne dem nächtlichen Wanderer, oder, um es weniger antiquiert auszudrücken: eine Taschenlampe, denn nichts wäre der mit Reduzierungen und Überformungen arbeitenden Bildsprache Goltzsches weniger angemessen als ein biedermeierliches Zuviel. Nichts ist dem Chronisten der Träume notweniger als Präzision. Selbst dann, wenn er den Sprung in mythische Gegenräume wagt, wo nicht die Taschenlampe oder Laterne für Illumination sorgt, sondern eine archetypische Leuchte.

Gleich am Eingang empfängt ein 2003 entstandenes Porträt von Peter Hille, diesem Urberliner Clochard, der ein Quell unerschöpflicher Poesie war. Es lohnt sich, in den den Bildern beigegebenen Beschreibungen zu lesen, welche Techniken und Materialien eingesetzt wurden. Hier: »Kreide und Farbstift auf Aluplatte«. Ein geisterhafter Vogel bewacht die Szenerie, zu der auch eine Flasche gehört, deren Hals sich schwanenhaft dreht, so als könnte Delirium schön sein. Goltzsche weiß um das so oft unlebbare Leben der Dichter. Sein hier nicht ausgestelltes Porträt Franz Fühmanns zeigt den Autor auf befremdliche Weise verwittert. Aber aus dieser Fremdheit sich selbst gegenüber schöpfen die beschwörenden Worte, die Brücken schlagen wollen zum anderen Ich.

Die Johannes-Bobrowski-Gesellschaft dankt im Gästebuch der Ausstellung. Sie hat Grund dazu, denn Bobrowski sind gleich mehrere Arbeiten gewidmet. Im Zentrum: Ein Porträt von 2000, eine Kreideübermalung der Algrafie »Die Brücke«. Bobrowskis fülliges Gesicht darüber gelegt gleicht der Rundung einer Hügelkuppe. Daneben von 1966 in Farbe »Dorfstraße« zu »Sarmatische Zeit«. Zu »Levins Mühle« gibt es gleich zwei Bilder. Unübersehbar hier der schwebende Fisch über einer Landschaft. Das christliche Symbol des Fisches ist hier jedoch in eine spielerische Distanz zum Grundmotiv von Bobrowskis Dichtung gebracht: Herkunft und Traum, die sich ganz ernsthaft in heiterem Übermut zur poetischen Figur verbinden.

Da ist Lust am Form-Finden ebenso am Werk wie kühl-analytischer Durchblick. Den zeigt das Porträt Heiner Müllers von 1992. Ein kantiges Profil in Dunkeltönen: Tempera auf Xerodruck. Hier wird eine Schärfe vermittelt, die auf Selbstverletzung hinweist. Der Denker in einer Zeit, die ihn erst bestreitet, dann bis zur Unkenntlichkeit feiert.

In Goltzsches Malerdialog mit der Dichtung wird die Welt auf gefährliche Weise vertraut. Man kennt sie nun aus der Nähe, aber sie bleibt dennoch etwas, das sich der allzu familiären Ansprache brüsk verweigert. Die Romantik stellt sich der Gefahr der Fremde. So im Porträt Joseph Conrads von 1975. Kreise streiten mit Dreiecken und Quadraten. Diagonalen durchschneiden das, was man für ein Bild jener Seefahrt halten könnte, die der Autor zum von ihm beschworenen Herz der Finsternis unternimmt: »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«

Ja, hier wird aus Phantasien geschöpft, die bereits Geschichte schrieben. Sophokles’ »Ödipus Tyrann« von 1975 steht wie eine schmale Übergangsgestalt an einer transzendentalen Schwelle, von der man nicht weiß, was dahinter liegt. Goltzsche vermerkt akribisch, hier handele es sich um die Textfassung von Heiner Müller, und die vage Gestalt sei jene des Schauspielers Fred Düren.

Und so versammeln sie sich hier immer wieder neu: Garcia Lorca, Sarah Kirsch, Helga M. Novak, Jean Paul, Kleist, Becher und Brecht. Ein Malerbuch mit Versen Heinz Czechowskis liegt aufgeschlagen. Wir lesen über das »Das Falsche Leben im Richtigen«: »Das falsche Leben haben wir gelebt. / Nun ist das andere dran, die Tüchtigen / Sind uns voraus. Die Erde bebt. / Wir leben jetzt gedankenarm im richtigen.« In den dialektischen Zwischenräumen der Phantasie wachsen Goltzsches Bilder, die mehr sind als Kommentare: Symbol gewordene Reflexion des Gesehenen.

Neben Czechowskis Gedicht sehen wir auf Striche reduzierte Menschen mit erhobenen Armen (wo nur ist hier noch Himmel?) zwischen einer Reihe von Säulen hindurchlaufend. Ein steinernes Spalier, das bedrängt und dem man nicht davonläuft, wenn man nicht auch auf etwas zu läuft. Um diese Art keineswegs handgreiflicher Rettung geht es in Goltzsches Zeichnungen zur Dichtung, die ihr nichts Äußerliches bleiben.

Burg Beeskow, Frankfurter Straße 23, Beeskow, bis 30.8., Di.-So., 9-19 Uhr. Radierungen und Lithographien von Dieter Goltzsche sind derzeit zudem im Druckgraphik-Atelier, Dietrich-Bonhoeffer-Str. 3, Berlin Prenzlauer Berg, ausgestellt; bis 8.7., Mo. 16-18.30 Uhr, Di. 18-22 Uhr und nach Vereinbarung.

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