Performatives, Unterhaltendes, Lyrisches

Nora Gomringer gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2015

  • Harald Loch und Johanna Reinicke
  • Lesedauer: 4 Min.
Siegerin in der Stichwahl: Die Slampoetin Nora Gomringer gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2015. Gewonnen hat sie mit einer performativen Recherche über einen 13-Jährigen, der wegen seiner Homosexualität gemobbt wurde und Anfang des Jahres Suizid beging.

Blumen und Scheck für und Freudentränen von Nora Gomringer, die nach ein paar Stichwahlen den mit 25 000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat. Die von der neu in die Jury berufenen Sandra Kegel eingeladene Gewinnerin ist als Slampoetin bekannt geworden, mittlerweile eine anerkannte Lyrikerin und wendet sich seit einiger Zeit größeren Formen zu. Sie ist 1980 in Neunkirchen an der Saar geboren und leitet heute in Bamberg das Künstlerhaus Villa Concordia. Ihre sehr performative »Recherche«, mit der sie in Klagenfurt erfolgreich war, führt die ebenso fiktive wie real existierende Schriftstellerin Nora Bossong in das Haus Gönnerstraße 18. Hier hat sich am 23. Februar dieses Jahre ein dreizehnjähriger Junge vom Balkon aus der fünften Etage gestürzt. Er hatte seine homoerotische Neigung erkannt, war von Gleichaltrigen gehänselt und ausgegrenzt worden und hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Die Mitbewohner »mauern« gegenüber der Recherche - eine Frau aus dem Haus äußert sogar den unglaublichen Satz »es war wohl besser so«. Hubert Winkels befand: »Das ganze Haus wird zu Mittätern gemacht«. Das alles las Nora Gomringer »raffiniert abgründig« (Hildegard Keller). Mit gefangen nehmender Vortragskunst und sprachlicher Vielfalt bestach die Autorin die Jury von Anfang an - bis auf den neuen Juror Klaus Kastberger, der befand: »Wir alle haben diesen Text geschrieben. Ohne den Wettbewerb gäbe es ihn nicht. Er hat außerhalb keine Chance.« Eine existenzielle Frage an den Wettbewerb.

Mit der 1989 geborenen Grazerin Valerie Fritsch hat eine der jüngsten Teilnehmerinnen den Scheck über 10 000 Euro für den Kelag-Preis entgegennehmen können. Sie war von dem in der Universität ihrer Heimatstadt deutschsprachige Literatur unterrichtenden Klaus Kastberger eingeladen worden. Die sehr einfühlsame Geschichte »Das Bein« ist ein klassischer literarischer Text über Versehrtheit. Eine Fichte stürzt um und zerquetscht ein Bein des Familienvaters. Der sträubt sich gegen eine dieser hochtechnologischen Prothesen und möchte lieber ein altmodisches Holzbein tragen - am besten aus dem Stamm der umgestürzten Fichte. Der Sohn Gustav »vermisste jene Unversehrtheit an ihm, die einem anderen eine Liebe möglich macht, die weder bedauern noch lindern will, eine Zuneigung, die sich an keinem Schmerz aufrichtet.« Diese feine, »großartig gearbeitete« (Sandra Kegel) Geschichte kann zu keinem guten Ende führen, begeisterte aber die Jury und auch das Publikum. Für dessen Reife spricht die über das Internet erfolgte Wahl der Autorin für den Publikumspreis über 7000 Euro. Dieser Doppelgewinn ist ein Zugewinn für die Literatur, die sich bei Jury und Publikum gegen das Unterhaltsame und nur Performative durchgesetzt hat.

Der 3sat-Preis in Höhe von 7500 Euro ging - auch das ist eine Verbeugung vor großer, ernsthafter Literatur - an die 1979 in Bukarest geborene Dana Grigorcea aus Zürich. Sie las auf Einladung von Hildegard Keller den Romanauszug »Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit«, einen »Text mit Schmiss« (Hubert Winkels), der das Potenzial zu einem großen Gesellschaftsroman habe, von dem »ich mir noch 200 Seiten mehr wünsche« (Klaus Kastberger). Es geht um ein Gesellschaftsbild Rumäniens in der Zeit vor und nach Ceauşescu und - wie nebenbei - um einen spektakulären Besuch Michael Jacksons in Bukarest, der das Klischee der amerikanischen Geographie-Ignoranz mit seiner verbürgten Begrüßung »Hello Budapest, I love you« aufs Komischste bediente. Der authentisch mit rumänischem Akzent vorgetragene Text animierte die Jury noch einmal zu Höchstleistungen und setzt die Tradition von Klagenfurt fort, Autorinnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, eine Plattform für Anerkennung und literarisches Karriere zu bieten.

Der ganze Wettbewerb hat sich wie Phönix aus der Asche erhoben. Vor zwei Jahren stand seine Fortführung auf der Kippe. Im vergangenen Jahr boten die gelesenen Texte und auch die Verzagtheit der Jury ernsthafte Zweifel am Sinn des Wettbewerbs. Und jetzt dieses Jahr mit einigen hervorragenden und vielen guten Texten und einer sehr inspirierten Jury. Nicht nur zahlenmäßig hatten die Frauen eine Zweidrittelmehrheit der Teilnehmerinnen. Einige sehr gute Texte konnten bei der in der Zahl etwas reduzierten Preise nicht bedacht werden. In weniger guten Jahrgängen hätten die in Zagreb geborene Anna Baar für ihren schönen Text über die starken Frauen auf einer kroatischen Insel und die Katastrophe der deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg oder auch für die Hamburgerin Monique Schwitter für ihre Szenen über »die letzte Ordnung« bei der Besetzung von Waldbestattungsplätzen in Buxtehude Preise gewonnen. Auch die in Moskau geborene Katerina Poladjan oder der in Berlin lebende Badener Sven Recker hätte es in einem durchschnittlichen Teilnehmerfeld in die Charts gebracht. Das Bessere - oder das für besser Befundene - ist eben des Guten Feind.

Ein Wort über die auf drei Positionen neu besetzte Jury: Hier gab es nach anfänglichen Hahnenkämpfen später ein wunderbares Gruppenbild mit drei Damen, die alle ihre Sache blenden machten. Die Neuen - Sandra Kegel aus Frankfurt, Klaus Kastberger aus Graz und der Schweizer Stefan Gmünder aus Wien machten ihre Sache gut. Der neue Vorsitzende Hubert Winkels aus Berlin und Köln griff mit seinen durchaus qualifizierten Interventionen etwas zu oft in die Dynamik der Jury ein. Alles in allem: Dieser Bachmannpreis nimmt seinen wichtigen Platz in der deutschsprachigen Literatur wieder ernstzunehmend ein!

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