Verschiebebahnhof Paris

In Frankreichs Hauptstadt fehlen Unterkünfte für Flüchtlinge / Mehrere Zeltlager auf Straßen und Plätzen

  • Bernard Schmid, Paris
  • Lesedauer: 6 Min.
Während die EU-Staaten weiter über die Verteilung von Flüchtlingen streiten, mühen sich jene, die schon angekommen sind, um eine würdige Unterbringung. In Paris leben nicht wenige auf der Straße.

Ihre Matratzen sind tagsüber neben der angrenzenden Vaclav-Havel-Bibliothek aufgetürmt. Hitze, Müdigkeit, die Auswirkungen des Fastenmonats Ramadan - für jene, die ihn einhielten - sowie die Frage nach einer Perspektive drücken einigen von ihnen auf das Gemüt. Sie sind Migranten, die seit einem guten Monat mit Hilfe von Anwohnern und Solidaritätsinitiativen eine Besetzung im Norden von Paris aufrechterhalten.

Am 9. Juli wurden sie zwar durch die Polizei »einvernehmlich« geräumt, weil man ihnen sicherere Unterkünfte als die unter freiem Himmel zusicherte. Doch über die Hälfte der damals mehr als 100 Besetzer sind inzwischen zurück, weil die Bleiben sich als hygienisch ebenso ungeeignet oder aus sonstigen Gründen problematisch darstellten.

In der Nähe des Rosa-Luxemburg-Platzes, auf einem früheren Bahngelände, campieren mehrere Dutzend von ihnen noch immer unter freiem Himmel in einem Park. Damit sind sie in Frankreichs Hauptstadt nicht allein: Ein zweites Camp von Geflüchteten befindet sich, ebenfalls seit mehreren Wochen, auf der Höhe des Austerlitz-Bahnhofs im Zentrum. In beiden Fällen kommen die Migranten - und weniger zahlreichen Migrantinnen - vor allem aus Sudan, Eritrea und Somalia. Sie gelten gemeinhin als anerkannte Flüchtlinge. Denn oft flohen sie vor Kriegen aus ihren Ländern, etwa in der sudanesischen Provinz Darfur, nach Libyen und erst aufgrund der dortigen Bürgerkriegssituation weiter in Richtung Europa. Yacouba* hingegen ist selbst ein schwarzer Libyer aus dem Süden des Landes, aus Sebha. Er sagt: »Hätte Frankreich 2011 nicht militärisch in meinem Land eingegriffen, wäre ich wahrscheinlich jetzt nicht hier.«

Anders als beim Austerlitz-Bahnhof im 13. Bezirk wurden die Besetzenden und ihre Unterstützer am Rosa-Luxemburg-Platz im 18. Pariser Stadtbezirk bislang nicht mit offen rassistischen Anfeindungen konfrontiert. Ende Juni hatten dort in den Abendstunden rund 30 Anhänger des Bloc identitaire - einer außerparlamentarischen rechtsextremen Aktivistengruppe mit Querverbindungen zur Wahlpartei Front National - eine Machtdemonstration zelebriert. Sie marschierten drohend auf, entrollten ein Transparent mit der Aufschrift »Geht nach Hause!« und warfen Böller auf die umherstehenden Zelte.

Im Pariser Norden liegt der Ort der Besetzung an einer weniger zentralen Stelle im Stadtbild. Bis vor wenigen Jahren war dieses Wohngebiet sogar weitgehend sozial ghettoisiert. »15 Jahre lang haben wir dafür gekämpft, dass nicht ausschließlich Sozialwohnungen und noch mehr Sozialwohnungen hier entstehen, während eine kulturelle und bildungspolitische Wüste drum herum herrscht«, erzählt die Stadtteilaktivistin Sabrina*, eine gebürtige Tunesierin. Sie zählt zu den aktiven Unterstützern der Migranten, die den anliegenden Park besetzen. Sie hilft in der improvisierten Küche des Camps aus und übersetzt Arabisch für die Sudanesen unter den Bewohnern. »Dass die Bibliothek, eine Sporthalle und eine Mittelstufenschule hier auf dem Gelände entstanden, ist unserer jahrelangen Anwohnermobilisierung zu verdanken. Aber jetzt kämpfen wir dagegen, dass die von uns gewünschte und geförderte kulturelle Aufwertung des Stadtteils im Nebeneffekt zu einer Gentrifizierung führt«, sagt Sabrina. Der Bezirk müsse für Menschen unterschiedlicher sozialer Lage erschwinglich bleiben.

Auch die neu nach Europa geflüchteten Migranten gehören in ihren Augen unbedingt dazu. Nicht alle Anwohner sehen die Dinge jedoch so. Moussa*, ein etwa 50-jähriger Franzose und Tunesier sowie arabischer Sprachlehrer, kritisiert die Anwesenheit der Migranten. »In Frankreich gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, wir können nicht alle Welt aufnehmen. Und wir Anwohner sind langsam genervt von den Hygieneproblemen, die das offene Camp für unser Viertel mit sich bringt«, legt er los. »Mitte Juni hätte ich beinahe den Anfang meines Unterrichts verpasst, weil die Straße fast eine halbe Stunde lang blockiert war.«

An diesem Tag hatten die Unterstützer demonstriert. Es war der 16. Juni und die Bereitschaftspolizei CRS hatte einen Großteil des Viertels präventiv abgeriegelt. Die Pariser sozialdemokratische Bürgermeisterin Anne Hidalgo hatte insistiert, dass es keine neuen Besetzungsversuche geben dürfe. Zuvor waren über 200 Flüchtlinge geräumt worden, die seit Wochen, zum Teil seit Monaten, unter der Hochbahn der Pariser Métro an der Station La Chapelle kampiert hatten. Ein »Schandfleck«, befand die Politik, der es jedoch zunächst nicht in den Sinn kam, den Menschen eine andere Unterkunft anzubieten. Ein Teil von ihnen waren Geflüchtete im Asylverfahren, denen jedoch beschieden worden war, es sei im Heimsystem für Asylsuchende schlicht kein Platz. Andere wollen lieber auf die britischen Inseln weiterreisen, als einen Asylantrag in Frankreich zu stellen. Von wieder anderen verlangt der französische Staat, dass sie den Flüchtlingsstatus nach dem Dublin-Abkommen in jenem Land beantragen, in das sie zuerst in die EU eingereist waren. Etwa in Ungarn, ein Land, über das sich viele Geflüchtete wegen rassistischer Behandlung und ebenfalls fehlender Unterbringung bitter beklagen und wohin sie auf keinen Fall zurück möchten.

Aufgrund der Aktivitäten der Unterstützer gab die Regierung mehrmals scheinbar nach und verschaffte den Migranten von La Chapelle oberflächlich Linderung. Man versprach ihnen eine Unterbringung - doch es handelte sich oft um Notunterkünfte in Obdachlosenheimen, die jeweils nur für eine Nacht zugeteilt wurden. Offensichtlich ging es nur darum, »das Problem« nicht konzentriert an einer Stelle zu haben, sondern die Betroffenen an viele Orte zu verteilen.

Daraufhin kam es ab Mitte Juni zu neuen Besetzungsversuchen in einem Park, in einer Feuerwehrkaserne und anderswo, die brutal geräumt wurden. Danach versprachen die Behörden jedoch die unbefristete Unterbringung für 227 Menschen und Hilfe beim Stellen von Asylanträgen. Ein Viertel der Betroffenen wurde jedoch einer Unterkunft zugeteilt, von der aus man einen direkten Blick auf den Stacheldraht des Abschiebegefängnisses von Vincennes hat. Sie flohen schleunigst und kamen in den 18. Bezirk zurück, wo sich weitere Flüchtlinge aufhielten, die nicht auf den Listen standen, etwa weil sie bei der offiziellen Zählung der 227 gerade nicht anwesend waren, sondern im Krankenhaus, bei der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten oder anderswo. Sie halten heute die Besetzung aufrecht.

Angesichts der bereits mehrwöchigen Dauer des Camps nehmen die Spannungen zu. Einige Migranten drängen darauf, das Leben in der Zeltstadt besser zu organisieren, was zum Teil sogar erstaunlich gut funktioniert. Es gibt Französischunterricht in der Bibliothek, die täglich einen Raum dafür zur Verfügung stellt, Übersetzergruppen, einen Ausschuss für psychologische Betreuung - geleitet von einer Berufspsychologin - und eine quasi rund um die Uhr funktionierende Küche. Ein Franzose ist »Metroticket-Beauftragter«, andere wechseln sich bei der Begleitung zu Arzt- oder Krankenhausbesuchen ab. Dennoch gibt es auch immer wieder Probleme wie Streitigkeiten im Camp vor dem Hintergrund wachsender Nervosität der Migranten. Jedoch auch, weil manche Landsleute sie ausgespäht haben und in die Netzwerke von Prostitution oder andere Machenschaften hineinziehen möchten - Flüchtlinge, die von sogenannten Schlepperorganisationen geortet werden, gelten als leichte Opfer. So wurde ein Eritreer bei einer nächtlichen Messerstecherei verletzt.

Manche Unterstützer wollen daher den Druck auf die Politik erhöhen. Die scheint sich aber darauf einzustellen, die Situation »auszusitzen« und während des Sommerlochs - das in Paris einen weitgehenden Stillstand des politischen Lebens bedeutet - sich selbst zu überlassen. Lediglich Besetzungsversuche außerhalb des als sozialer Brennpunkt ein- und abgestuften Stadtteils sollen unterbunden werden. Alle Demonstrationen der Geflüchteten oder ihrer Unterstützer werden deswegen seit Mitte Juni von einem riesigen Polizeiaufgebot und Spalier auf beiden Seiten begleitet. »Erst sollten sie nicht hierher und den Raum besetzen«, kommentiert ein Unterstützer sarkastisch, »jetzt sollen sie bitte hier bleiben und nur nicht woanders hingehen.«

*Namen geändert

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