Es geht auch ohne Chefs

Im Zuge der ökonomischen Krise in Argentinien 2001 retteten Arbeiter ihre Betriebe, indem sie sie übernahmen. Die meisten dieser Fabriken existieren noch heute.

  • Alix Arnold
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Juli fuhren Arbeiterinnen und Arbeiter der Fliesenfabrik Zanon wieder einmal nach Buenos Aires, um vor dem Kongress zu demonstrieren. Die 14-stündige Busfahrt aus Patagonien in die Hauptstadt ist seit der Besetzung der Fabrik 2001 eine gewohnte Reise. Jahrelanger politischer Druck war nötig, um Ende 2012 endlich die Legalisierung der Selbstverwaltung zu erreichen. Die Gefahr einer Fabrikräumung ist gebannt, aber nun droht die ökonomische Strangulierung.

Die Regierung weigert sich, einen vor zwei Jahren beantragten und längst zugesicherten Kredit von 32 Millionen Pesos (mehr als drei Millionen Euro) auszuzahlen. Für eine technologische Modernisierung der Fabrik sind die Kolleginnen und Kollegen dringend auf dieses Geld angewiesen. Sie erwirtschaften mit der Fliesenproduktion den Unterhalt für 450 Familien und haben immer wieder in Instandsetzung investiert, aber für eine Erneuerung des inzwischen hoffnungslos veralteten Maschinenparks fehlt das Kapital.

Vor diesem Problem stehen viele Betriebe, die in der Krise 2001 und den folgenden Jahren von Arbeitern übernommen und in Eigenregie weitergeführt wurden. Nach vielen Jahren ohne Investitionsmöglichkeiten geraten sie auf dem Markt ins Hintertreffen. Aber nur wenige Betriebe sind gescheitert. Das ist das Positive: Fast alle gibt es noch und es kommen neue hinzu. Betriebsübernahmen waren in Argentinien also nicht nur ein vorübergehendes Krisenphänomen.

Heute arbeiten in 315 übernommenen Betrieben 13 500 Kollegen. Aus ersten Besetzungen und höchst experimentellen Anfängen von Selbstverwaltung ist eine bewährte Methode des Arbeitsplatzerhalts geworden, mit einem eigenen Label, das mittlerweile auch in anderen Ländern Lateinamerikas benutzt wird: ERT - Empresas Recuperadas por sus Trabajadores (deutsch: von den Arbeitern übernommene bzw. zurückgewonnene Betriebe).

Die erste Welle solcher Betriebsbesetzungen in Argentinien fand nach dem Aufstand im Dezember 2001 statt, inmitten eines explosionsartigen Aufschwungs sozialer Bewegungen, als sich Menschen auf den Straßen versammelten und große Hoffnungen geweckt wurden. Viele träumten damals davon, dass auf den Trümmern der Krise eine Solidarische Ökonomie entstehen könnte. Aber davon ist die Bewegung weit entfernt: Bei einer Bevölkerung von 42 Millionen sind 13 500 Arbeiter eine winzige Minderheit.

Die meisten ERT sind Kleinbetriebe mit weniger als 50 Beschäftigten. Der Schwerpunkt liegt in der Metallverarbeitung und Lebensmittelindustrie. Diese Firmen sind nach wie vor eng mit der herkömmlichen Ökonomie verknüpft und in hohem Maße Teil von Wertschöpfungsketten kapitalistischer Unternehmen. Von staatlicher Seite gab es zwar einige Zugeständnisse, die jedoch auch zu einer gewissen Institutionalisierung geführt haben. Statt auf der Straße Druck zu machen, klopfen Kollegen aus den ERT heute bei den Büros von staatlichen Behörden, Richtern oder Konkursverwaltern an.

Große Erwartungen setzten die Arbeiter in das neue Konkursgesetz von 2011, das der Fortführung des Betriebes durch die Beschäftigten Priorität einräumt gegenüber der Liquidierung zugunsten der Gläubiger. Faktisch hat das Gesetz die Übernahmen jedoch nicht befördert. Seit Inkrafttreten sind aber die politischen Kämpfe zurückgegangen, die eine Enteignung besetzter Betriebe fordern. Die Enteignung war vorher der wichtigste Weg zur Legalisierung. Der Konflikt findet heute weniger auf der Straße, sondern überwiegend auf dem Rechtsweg statt.

Trotz all dieser Einschränkungen ist in Argentinien ein großer Erfahrungsreichtum von Selbstverwaltung entstanden, der weiter ausgebaut wird. In vielen ERT blieben nach der Übernahme nur die Arbeiterinnen und Arbeiter, während das Verwaltungs- und Führungspersonal das Weite suchte. Diese Arbeiter eigneten sich neue Fähigkeiten an und bewiesen eindrucksvoll, dass es auch ohne Chefs geht. Selbstverwaltung oder »anders wirtschaften« war ursprünglich nicht ihr Ziel. Den Betrieb zu übernehmen war eher eine Notlösung, um den Absturz in Arbeitslosigkeit und Armut zu verhindern.

Dabei begannen die Beschäftigten Hierarchien und Ungleichheiten abzubauen, sie führten Einheitslöhne und Rotation bei den Arbeitsplätzen ein und experimentierten mit Basisdemokratie. Sie gründeten Kooperativen, da dies die einzig anerkannte Form der Legalisierung ist.

Während bei klassischen Kooperativen der Vorstand die Entscheidungen trifft und Versammlungen nur einmal im Jahr abgehalten werden, ist es bei den meisten ERT umgekehrt. Entscheidungen werden gemeinsam auf Versammlungen getroffen, die in der Mehrzahl der Betriebe wöchentlich oder mindestens monatlich stattfinden.

Besonders ausgebaut ist die Versammlungskultur in der relativ großen und besonders politisierten Fabrik Zanon. Hier leisten sich die Kolleginnen und Kollegen immer noch regelmäßig Diskussionstage, an denen die Produktion gestoppt wird, damit alle teilnehmen können. Dabei geht es nicht nur um die eigenen Belange, sondern immer wieder auch um Solidarität mit anderen Kämpfen. Sie gehen auf die Straße - zusammen mit Arbeitern, Obdachlosen oder den indigenen Mapuche gegen das ökologisch gefährliche Fracking in der Provinz Neuquén.

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