Jagdszenen in Ungarn

  • Thomas Roser, Röszke
  • Lesedauer: 2 Min.

Weg, nur schnell weg. Vergeblich versuchen behelmte Staatsdiener, die in Bewegung geratene Menschenmasse unweit der südungarischen Grenzstadt Röszke zu stoppen. Bevor die dick gepolsterten Polizisten Schlagstöcke und Pfefferspray-Dosen gezogen haben, hasten über 100 Flüchtlinge die Böschung hinab und auf den nahen Asphalt: Mit den Rucksäcken auf ihren Rücken und Kindern in den Armen stolpern sie auf die Autobahn zur Flucht nach Budapest, nach Norden.

Doch hier haben die keuchenden Ausbrecher keine Chance. Von Süden, Osten und Norden nähern sich den nach Westen hetzenden Rucksackträgern zwei Hundertschaften Polizisten. Die Flucht in das nahe Wäldchen stoppt der Autobahnzaun. Eine Ausfahrt als scheinbar letzter Ausweg erweist sich als Falle. Unten tost der nach einer Stunde wieder freigegebene Verkehr, während die Flüchtlinge mit hängenden Köpfen eskortiert von der Polizei über die Autobahnbrücke zurück in Richtung der hohen Zäune des nahen Auffanglagers trotten.

Schon seit Tagen spielen sich in Ungarns Grenzland zu Serbien in Maisfeldern, auf Wiesen oder der bereits mehrmals gesperrten Autobahn chaotisch anmutende Jagdszenen ab. Heerscharen von Polizisten versuchen Flüchtlinge in die beiden Auffanglager in Röszke zu treiben. Nicht nur die Furcht, bei einer Abnahme der Fingerabdrücke in Ungarn das Recht auf einen Asylantrag an ihrem eigentlichen Zielland zu verlieren, lässt viele Flüchtlinge zögern. Auch die fehlende Versorgung und erbärmliche Zustände in den völlig überfüllten Lagern lassen sie entsetzt Reißaus nehmen.

Doch auch für jene, die sich registrieren lassen, ist in den überfüllten Lagern nicht immer Platz. Wer Glück hat, findet auf den provisorischen Campingplätzen auf den Äckern von Röszke im eigenen Zelt Unterkunft. Andere versuchen auf Pappkartons, mit dünnen Decken oder dem Verbrennen von Plastiktüten an den »Checkpoints« empfindlich kühlen Nächten zu trotzen. »Kalt, sehr kalt«, sei die Nacht gewesen, sagt ein Familienvater aus Syrien.

Die staatliche Hilfe für die unfreiwilligen Camper beschränkt sich auf Polizeiüberwachung - und einige stinkende Dixi-Toiletten. Besorgt riefen 22 private Hilfsorganisationen die Regierung auf, der Flüchtlingskrise »auf menschliche Weise« zu begegnen. Hilfe für Menschen in Not sei nicht nur »moralische Pflicht« der Bürger, sondern auch der Regierung.

Statt Ärzten und Hilfsgütern setzt Budapest indes seine Armee in Bewegung. Stimmt das Parlament der Abstellung von Armeeangehörigen für den Grenzschutz zu, sollen 3000 bis 4000 Soldaten in der Grenzregion verbleiben. Gefragt, ob diese auch von Schusswaffen Gebrauch machen werden, gibt sich Verteidigungsminister Istvan Simicsko zweideutig einsilbig: »Niemand will das.«

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.