Diese Verhältnisse müssen weg

Berliner Ensemble: Leander Haußmann inszenierte Brechts »Der gute Mensch von Sezuan«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 7 Min.

Luxuslosigkeit gähnt, während polternd ein Tabakladen angefahren kommt und gläsern ins Publikum glotzt. Die Anwesenden hören, Shen Te, plötzlich mehr Geld bei sich als üblich, habe ihn erstehen können, und der solle ihr Glück bringen. Glück? Das gibt es in Sezuan nicht. Nur Bangen und Gerangel. Musik spielt. Abgerissen der Typ, der die Tasten des Klaviers betätigt. Wie der Ochse den Pflug zieht, schiebt er das Instrument kreuz und quer, als schleppte er des Flüchtlings Last.

Theater, das jetzt lebt, jetzt wirken will, braucht den Zwiespalt, das Andere des Ichs, das Andere, kaum Erkannte der Verhältnisse, das die Individuen spaltet und gegeneinander aufbringt. Kein Stück von Brecht, das die Tumulte der Wirklichkeit lediglich abbildet oder sich darin verliert. Das wäre auch gefährlich, die Theater sollten sich hüten, denn die smarten Barbaren der Jetztzeit wollen, dass Theater dem Leben ähnelt, ja mit ihm in eins fällt. Sie können es dann puppenleicht fallen lassen, auf nimmer Wiedersehen. Bühnenkunst, das scheint häufig verlernt, schafft ganz »eigenes Leben«, vorausgesetzt, die je einzelne Instanz hat solch Eigenes genährt und entwickelt, etwas - abgehoben von dem Grau und Trug der Welt, auch deren blendender Buntheit -, das vor der Realität nur bestehen kann, wenn es den Scharfsinn der künstlerischen Sache zur vollen Blüte bringt. Andererseits: Theater ohne Lebensbezug verdient den Namen nicht. Den muss es schon meistern, will es sein Publikum nicht verprellen. Gemeinplätze? Nee. Es gebricht der modernen Bühne oft daran. Peinlich ist ihr ungezügelter Individualismus, etwa wenn Darsteller, statt die Nervenpunkte der Rolle zu treffen, lärmend ihre Obsessionen auskotzen. Bei Bert Brecht, will er gemeistert werden, funktioniert das nicht.

»Der gute Mensch von Sezuan«, begonnen 1930, in verschiedenen Fassungen vollendet während des Zweiten Weltkriegs, ist eine Parabel. Sie zeigt modellhaft Verhalten einer unterschiedlich strukturierten Gruppe, die eines eint: Alle, der Arbeitslose wie der Fabrikant, sind Geworfene vor der Kulisse einer chinesischen Großstadt. Solche Modelle zu spielen, verlangt den Darstellern vieles ab. Vor allem Umstellung. Sie müssen hellwach sein bis in die Mundwinkel, den geschichtlichen Hintergrund mindestens ahnen, jeder wechselnden Nuance gewärtig sein und reagieren wie die Luchse, wenn sie Gefahr lauern, dabei allen psychologischen Ballast hinter sich lassen und keinen Fingernagel breit von der Sache, die klarzulegen ist, preisgeben. Das kostet was. Die Inszenierung von Leander Haußmann hat manches davon eingelöst, aber alles bezahlt hat sie nicht.

Oben im Himmel hausen die Götter, glattstirnig, und blicken tief. Brecht ändert das. Er lässt ein Trio herabkommen und wie Irdische, bepackt mit Beuteln, auftreten, den Leuten gleich und doch vernehmlich Götter. Frauen, dicke wie mittlere und dünne, so redselige wie nachsinnende Geschöpfe mit langen Bärten und weiten Umhängen nach China-Art (Kostüme Janina Brinkmann) spielen die Drei von droben. Hienieden sich einzurichten, als wären sie Exilanten, und zu schauen, danach trachten sie. Sprechwitzig, freundlich, auch erschöpft Traute Hoess, Swetlana Schönfeld, Ursula Höpfner-Tabori, geballte schauspielerische Erfahrung und ganz brechtisch. Was treiben die Guten und die Üblen und die Gut-Üblen, die davon krumm geworden sind? Schon treffen die Niederkünftler den Wasserverkäufer Wang und bitten um Logie, hoffend auf das Gute im Menschen. Wang will helfen, aber er kann nicht. Seine Taschen sind leer. Norbert Stöß gibt dem Wang, was des Wangs ist: schlaksig, gutmütig, traurig, gewitzt. Seine Hand wird irgendwann von einem der armen Hunde übel zugerichtet, aber sein Traum von einer Rente zerrinnt.

Shen Te ist die Achse des Stücks. Sie wirft ihre Not, um des täglichen Brots wegen Hure sein zu müssen, ab und will auf redliche Weise den Leuten nützlich sein. Was sie von einem Verhängnis ins andere treibt. Wer die Shen der Karusseit, als sie Volksbühnenschauspielerin war, gesehen hat, der weiß, wie viel zu tun ist, die Rolle groß zu gestalten. Instinkt, sachgerecht zu besetzen, hat Leander Haußmann allemal. Die junge, hoch begabte Antonia Bill, die er wählte, knüpft augenfällig an geschichtliche Leistungen an und bringt die schwierige Rolle selbstredend nach ihrem Maß. Komisch ihr schwarzer Rock. Der ist viel zu eng, andauernd rutscht er hoch, und sie muss ihn andauernd runterziehen. Die Bill kann wunderbar singen. Paul Dessaus »Sezuan«-Musik, sie erscheint rudimentär, hat mehrere Songs. Shen singt »Das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten«, in dem sie verzweifelt fragt: »Warum haben die Götter nicht Tanks und Kanonen / Die Bösen zu fällen, die Guten zu schonen?« Mit ihren High Heels wackelt sie auf dem Steg und singt so anrührend, so sinnlich, so verzweifelt, wie es kaum besser geht. Bei einem nächsten ist sie halbnackt, das Spotlight streift sie zärtlich. Großer Augenblick. Glänzend nicht minder das »Lied vom achten Elefanten«. Ein schwungvoll arrangierter Shantychor, der die ganze Belegschaft trunken macht. Zu wenig allerdings, das gedankliche Ganze in volle Blüte zu bringen.

Allein die Niedrigkeit ermöglicht das Hohe, und das Hohe gebiert die Niedrigkeit. Ein Flieger fliegt ihr entgegen, sie verliebt sich, bangt um ihn, will ihm helfen, mit Geld, und stürzt sich ins Unglück. Auf Initiative ihres Vetters erhält Sezuan eine Tabakfabrik. Die schwarzen Klamotten des Vetters am Leib, ist sie fortan Vetter und Shen, sprich Ausgebeutete und Ausbeuterin in einem. Antonia Bill gibt dies Doppelspiel voller Hingabe, mit Intelliganz und höchst möglichem Können. Es tut weh, auch geschlechtlich, gleichzeitig ein anderer zu sein, Mann und Frau. Was die Bill dazu verführt, sich öfter zwischen die Beine zu fassen, was lächerlich wirkt. Alle, Shen Tes Verwandte, der geliebte Flieger, der von Shen zurückgewiesene Barbier, das anrührende Teppichhändlerpaar, der klotzige Schreiner Lin To, der hemdsgraue Arbeitslose, besagter Wasserverkäufer, der Trompeter, das Klavierzugtier, die scharfe Hausbesitzerin Mi Tzü, sonstige Weiber und Gesellen geraten unter dies Dach. Ja, die Fabrik, das ist das neue Rauschen. »Fast ein jeder hat die Welt geliebt / Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.« Die Rekrutierten aber ächzen und klagen.

Jeder, noch der Letzte, gerät unvermeidlich in die Mühlen des Mehrwert heckenden Kapitalismus. Selbst die trunken wandelnden Riesenlaternen sind den Erschütterungen ausgesetzt. Auch jede Menge weißer Plastestühle und -tische, so leicht, sie durcheinanderzuwirbeln und die Tumulte zu steigern. Chinalampenimitate fahren herab und beleuchten feierlich die Strähnen derer, die Shens und des kühnen, lächerlichen, brotlosen, weil arbeitslosen Fliegers Yang Suns (Matthias Mosbach) Hochzeit feiern wollen, jedoch ewig warten müssen, weil einer fehlt, der Fabrikbesitzer Shui Ta höchst selbst, also der Neffe Shen Tes, der sie selber ist, jener, der die Fäden spinnt, dem alle misstrauen und der sich selber misstraut, weil er zu viel hat und immer auf der Lauer sein muss, der hilft, und indem er hilft, Gewinn einheimst.

Der Coup fliegt selbstredend auf. Shen ist wieder ganz unten.

Sezuan steht für den Moloch Kapitalismus. Die Leute drückt der Fluch, der diesem innewohnt. Ihre Verzweiflung macht sie grämlich und böse. Haußmanns Kollektiv macht klar: Begeifern und zerreißen sich die gehetzten Seelen, so kommt das einer Nötigung gleich. Einzige Hoffnung: Diese Verhältnisse müssen verschwinden. Das sagen Stück und Aufführung nicht, aber das ist die Konsequenz.

Brechts Modelle treffen das Jetzt und Hier so sehr wie vielleicht zu keiner anderen Zeit. Unzählige Naturen deformieren und werden entweder zu Dieben und Ausbeutern oder zu elenden Kleinbürgern, solchen, die selbst der Maus vor der Kellertür nicht über den Weg trauen, sie könnte ja ein Flüchtling sein. Was ist das, gut sein wollen und nicht dürfen? Die Frage bleibt aktuell. Der Mensch, dies rosige, zärtliche, hilflose Wesen, entspringt es dem Mutterleib, will seiner Güte nachkommen, aber ein Alb lastet darauf. Das klar versinnlicht zu haben, eint Haußmanns tüchtiges Ensemble. Überflüssig allerdings der viele Klamauk, die eingestreuten Popsongs, wohl Lieblingsnummern des Regisseurs, jene fast alle Bühnen epidemisch erfassenden Rockklänge, welche die Abläufe verschandeln. Dort, wo Mäuler sinnlos schreien, Akteure lieber individualistische Effekte zaubern, als ihre Texte klar und laut genug zu parlieren, wächst Unmut.

Zuletzt schlüpfen die drei Götter in prunkvolle Gewänder und Masken, als hätte ein noch höheres unsichtbares Wesen sie gesandt, die Welt nach dem Guten abzusuchen, das sie nicht finden, um schließlich der Erde den Rücken zu kehren, weg von all dem Elend und dem Fluch. Shen Te verhüllen sie unter sich, als wollten sie verbergen, was mit ihr geschah. Endlich ergeht der Epilog ans Publikum: Alle Fragen sind offen. »Gepriesen sei, gepriesen sei / Der gute Mensch von Sezuan!«

Nächste Vorstellung: 29.9.

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