Warum Habichtrufe für volle Weinfässer sorgen

Das größte Weingut Norddeutschlands liegt im mecklenburgischen Rattey - es knüpft an eine Tradition an, die schon für 1229 nachweisbar ist

  • Ralph Schipke, Rattey
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist keine Spielerei: Im Schlossweingut Rattey in Mecklenburg-Vorpommern rechnet man in diesem Jahr mit einer Ausbeute von immerhin 15 000 Litern. Und die Qualität kann sich sehen lassen.

Diebe im Weinberg - bis unmittelbar vor dem Startschuss zur Lese für den neuen Jahrgang muss Weingutsleiter Stefan Schmidt gegen sie kämpfen. Blaue Netze sind über die roten Rebstöcke in Rattey gespannt, sie sollen Stare von den fast reifen Trauben abhalten. Durch das Dorf in Mecklenburg-Vorpommern schallen seit Wochen Habichtschreie - vom Band eingespielt.

Schmidt rechnet mit 22 000 Flaschen beziehungsweise 15 000 Litern Ausbeute für den 2015er Jahrgang. Das sei »schwach geschätzt«, meint der diplomierte Oenologe. Für das nördlichste Schlossweingut Deutschlands - es ist gleichzeitig das größte Weingut Norddeutschlands - war diese Saison perfekt. Und am 3. Oktober soll die Ernte beginnen.

DDR-Standardweine aus Neubrandenburg

In dem Büchlein »Weinbau im Schatten von Burgen und Schlössern« hat Stefan Schmidt einiges zur Geschichte und Gegenwart der norddeutschen Weinoasen zusammengetragen – und auch Interessantes über die drei ehemaligen großen Weinkellereien der DDR-Nordbezirke.

Für den aus Magdeburg stammenden Schmidt selbst war es ein Glücksfall, dass er nach seinem Oenologie-Studium im bulgarischen Plowdiw die Weinkellerei in Neubrandenburg mit aufbauen konnte. In dem volkseigenen Betrieb wurden in den 1980er Jahren DDR-Standardweine, wie »Goldener Nektar«, »Sole Vino« oder »Mendoza« abgefüllt und ein Zwischenlager für DDR Importe aus Algerien, Argentinien oder Spanien im Umfang von 2,5 Millionen Litern Wein vorgehalten.

Neben Wein wurden auch Perlweine und Wermut hergestellt. »Cherry Lady«, ein bekanntes Mischgetränk aus Rotwein und Sauerkirschsaft, wurde in Neubrandenburg entwickelt und dort bis 2009 produziert. rs

Bei der Rebsorte Regent misst der Fachmann 70 °Oechsle. Das ist die Maßeinheit, in der die Winzer das Mostgewicht vom Traubensaft angeben. Oder fachmännischer gesagt: Der Wert besagt, um wie viel Gramm ein Kubikdezimeter Most schwerer als Wasser ist. Man kann auch sagen, es ist das Maß dafür, wie viel Sonne und damit Süße in den Früchten steckt. Für Landwein jedenfalls würden bereits 50 °Oechsle genügen.

Die besten Partien der Rebsorten Phoenix und Regent werden in Rattey später im Keller auf 500-Liter-Eichenholzfässer gelegt und zur Ratteyer Eigenmarke »Eikspon« ausgebaut. Die wiederum wird zusammen mit den anderen Mecklenburger Landweinen in Wismar, Rostock, Schwerin und Bad Doberan verkauft. Sogar in das älteste deutsche Weinhandelshaus, das renommierte Lübecker Weinkontor Tesdorpf, haben es die Mecklenburger Tropfen schon geschafft. Nach Berlin oder weiter in den Süden können die Ratteyer Winzer ihren Tropfen momentan leider nur über das Internet anbieten. Doch am besten ist natürlich immer die direkte Beratung und Weinprobe vor Ort auf dem Ratteyer Weingut, nur zehn Minuten von der Autobahn 20 entfernt.

Gerade hat Kellermeister Schmidt persönlich zwei durchreisenden Erzgebirglern die Besonderheiten des norddeutschen Weins gepriesen. Die Ostsee-Urlauber sind auf dem Weg nach Hause und nehmen eine Flasche zum Probieren mit. Zehn Euro erscheinen ihnen nicht überbezahlt für einen feinen Roséwein. »Bei uns ist vom Rebschnitt bis zur Abfüllung alles handgemacht«, gibt Schmidt ihnen noch mit auf den Weg.

Im Vorjahr musste der Weinfachmann die Leute vom Ratteyer Winzerverein, der bei der Bewirtschaftung der Weinberge hilft, bereits am 18. September zur Lese zusammentrommeln. Die Solaris-Reben hatten bereits fast 90 °Oechsle und bei der Rebsorte Phoenix war an mehreren Stellen Graufäule auszumachen. In diesem Jahr waren nur die in Massen auftretenden gefiederten Weinfreunde von den Trauben abzuwehren.

In den letzten Jahren wurden die Erträge des norddeutschen Weinanbaugebietes stetig ausgebaut. Aus Fehlern des Anfangs wurden Lehren gezogen. »Die Hälfte unserer Fläche haben wir umgerebt«, erzählt Stefan Schmidt. Denn: »In den ersten Jahren haben wir mit dem Spätburgunder einen Bauchklatscher hingelegt. Und im strengen Winter 2011/12 sind der Müller-Thurgau und der Huxel bis auf die Wurzel durchgefroren.«

Versuch, Irrtum und Lehre - anders ließ sich an die alte Weinbergtradition in der hügeligen norddeutschen Eiszeitlandschaft nicht anknüpfen. Nun umgeben den Ratteyer Park mit seinen 700-jährigen Eichen und einem klassizistischen Schloss seit einigen Jahren etwa 20 000 Rebstöcke - auf einer Fläche von knapp fünf Hektar.

Mecklenburgische Weinbautradition ist seit 1229 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nachzuweisen, erzählt Schmidt. 1999 wurde sie durch einen privaten Verein in Rattey wiederbelebt. Für die Erlaubnis zum Vertrieb von »Mecklenburg Landwein« bedurfte es 2004 einer Änderung des Weinrechts. Seither liegt in Rattey und im nahe gelegenen Burg Stargard hochoffiziell bestätigt das deutsche Weinanbaugebiet »Stargarder Land«.

Ab Sonnabend werden für die diesmal überdurchschnittliche Ernte viele Helfer gebraucht. Drei Leute arbeiten mit Stefan Schmidt fest angestellt auf dem Weingut, die übrigen Helfer sind Vereinsmitglieder. »Für Winzer und Lesehelfer wird das ein Erlebnis und Lohn für die Mühe, die wir ein Jahr lang in die Pflanzen gesteckt haben«, freut sich Schmidt. Er ist überzeugt, sie werden dabei einen guten Rohstoff für die einzige regionale Spezialität mit dem Siegel »geschützte geografische Angabe« einbringen, die bei Kennern inzwischen einen Namen hat und sich nicht als Massenware im Supermarktregal wiederfinden soll.

Nach der Lese können die Hühner im Dorf endlich wieder in Ruhe scharren. Sie müssen sich dann nicht mehr wegen der Habichtrufe aus den Lautsprechern am Weinberg ängstigen.

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