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Verräter und Flachköpfe

In seinem Tagebuch von 1921 schreibt Erich Mühsam über seine Festungshaft

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

»Beim Zahnarzt erschraken zwei Nonnen, die eben das Sprechzimmer verließen, entsetzlich bei meinem Anblick … Toller berichtete mir später: die Damen, von denen eine die Oberin des Herz-Jesu-Ordens war, seien fürchterlich entsetzt zur Wirtschafterin geflüchtet. Offenbar habe ich mir die Haare wieder zu lang wachsen lassen.« Tatsächlich erregt der Häftling Erich Mühsam, der hier in seinem Tagebuch aus dem Jahr 1921 von einem Arztbesuch erzählt, den er gemeinsam mit dem Schriftstellerfreund und Genossen Ernst Toller absolvierte, bis heute wohl mehr Aufsehen aufgrund seines verwegenen Aussehens als wegen seines politischen Aktivismus. Er sei der »Feind aller Friseure« soll Mühsam einmal über sich selbst gescherzt haben.


Erich Mühsam: Tagebücher, Band 8.
Verbrecher Verlag. 271 S., geb., 30 €.


Beim Axel-Springer-Blatt »Die Welt« - wo man noch vor einigen Jahrzehnten am liebsten das langhaarige Studentenpack mindestens zwangsfrisiert hätte - glaubt man noch heute in Mühsams Haartracht und Physiognomie alles vermeintlich Antibürgerliche und Linke, das man so heftig verabscheut, in der aufs Schönste vereinigten Weise wiederzuerkennen: »Es reicht ein Blick auf ein Foto Mühsams ... und man zieht die Schublade links außen auf … Die wilden, hohen Locken signalisieren einen Feuerkopf, der Kneifer einen Intellektuellen, der Sauerkrautbart einen Linken.«

Mühsam selbst, Libertin, Antimilitarist, Revolutionär, Anarchist, Schriftsteller, begriff sich und seinen vitalistischen romantischen Anarchismus stets als »links von den Parteien«. »Seit vollen 20 Jahren habe ich meinen agitatorischen Eifer keiner Aufgabe so hingebend zugewandt wie der Kritik des zentralistischen Parteiwesens«, heißt es etwa am 9. Januar 1921 in seinem Tagebuch. An seine Prosa und Lyrik - man denke etwa an sein noch immer das Wesen der deutschen Sozialdemokratie klar veranschaulichendes Gedicht »Der Revoluzzer« aus dem Jahr 1907 - erinnern sich heute die wenigsten. Dabei war er nicht nur als politischer Dichter eine Ausnahme, er war auch, selbst noch zu den Zeiten, als er inhaftiert und sein politischer Einfluss noch geringfügiger war als ohnehin schon, ein verlässlicher Antagonist zu der elenden Koalition, die die Sozialdemokraten zur Weimarer Zeit mit den Reaktionären und Kriegsgewinnlern eingingen.

Als »treibendes Element« bei der Entstehung der kurzlebigen Münchner Räterepublik wurde er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt. Doch auch dort, in der Haft, setzte er seine 1910 begonnenen Tagebücher mit demselben unermüdlichen Enthusiasmus fort, mit dem er Briefe und Eingaben verfasste, in denen er sich über fortgesetzte »Extraschikanen« wie Einzelhaft beschwert sowie über »Quälereien« und »Schindereien, die gegen uns ausgeheckt und mit kalter Amtsmiene durchgeführt werden«. Selbst bei den seltenen Besuchen seiner Ehefrau »Zenzl«, so Mühsam, »wird wahrscheinlich wieder jeder Kuß von einem bezahlten Voyeur überwacht«.

So findet man im soeben erschienenen achten Band von Mühsams Aufzeichnungen Beschwerden über die »sadistische Strafwut« der bayerischen Justiz ebenso wie Kritik an der »Reaktion«, die nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts »wieder wahre Orgien in Deutschland feiert«. Man liest von Hungerstreikplänen, von der Arbeit an einem »Roman«, wiederholt schimpft Mühsam auch leidenschaftlich auf die »Pressbanditen« der »patriotischen Zeitungen«, in denen stets dasselbe zu lesen und der »gleiche Scharfblick am Werke« sei.

Früher als andere erkennt er auch die Gefahr des Antisemitismus, den das Bürger- und Kleinbürgertum stolz vor sich herträgt, und die »profunde sittliche Verkommenheit, die Deutschland heute charakterisiert«. Beliebtes Dauerthema ist natürlich auch die Niedertracht der Sozialdemokraten und Nationalbolschewisten: »Verräter und Flachköpfe alle miteinander. Das Prinzip geht vor die Hunde - überall, die Politik, das Kirren der Massen mit jedem opportunistischen Mittel, das Stabilisieren der Politikantenpöstchen geht den Herren über die Revolution und den Kommunismus. Pfui Teufel!« (Das liest sich beinahe, als sei es heute geschrieben.) Gerade angesichts dessen aber scheint in manchen Passagen Mühsams Pathos und sein wirklichkeitsferner revolutionärer Optimismus geradezu beängstigend. Der neunte Band der auf insgesamt 15 Bände angelegten Tagebuch-Edition soll bereits im November erscheinen.

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