Türkei-Besuch: Merkel macht Erdogan stark

»Wahlkampf für autoritären Herrscher, Bankrotterklärung«: Linke und grüne Opposition kritisiert Reise der Kanzlerin / Dagdelen: Schäbiger Deal zur Flüchtlingsabwehr

  • Lesedauer: 6 Min.

Istanbul. Für enge Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel der Türkei Visa-Erleichterung und Finanzhilfen in Aussicht gestellt. Im Gegenzug erwarte sie eine schnellere Einführung des Rückübernahmeabkommens durch die Türkei, sagte Merkel am Sonntag nach einem Treffen mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu in Istanbul.

Merkel sagte, die Türkei habe bislang wenig Unterstützung bekommen für ihre große Leistung. »Deshalb werden wir uns finanziell stärker engagieren.« Sie verstehe, dass die Türkei zusätzliches Geld möchte.

Davutoglu würdigte die »mutige Vorgehensweise« Merkels in der Flüchtlingsfrage. »Damit kann kein einziges Land alleine fertig werden.« Bislang sei die Türkei im Stich gelassen worden. Wichtig sei, dass nun bei der Lastenteilung ein gemeinsamer Wille gezeigt werde. Die Zahlen seien »zweitrangig«. Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU. Merkel sagte, man müsse auch überlegen: »Welche Möglichkeiten der legalen Migration kann man schaffen?«

Merkel bot an, »den beschleunigten Visaprozess zu unterstützen«. Türkische Bürger selbst brauchen für die Einreise in den Schengen-Raum in der Regel ein Visum. Die EU und die Türkei initiierten Ende 2013 einen »Dialog zur Visa-Liberalisierung«. Die Türkei soll im Gegenzug illegal in die EU eingereiste Menschen wieder aufnehmen.

Die Kanzlerin sprach sich zudem für die Eröffnung weiterer Kapitel im EU-Beitrittsprozess der Türkei aus. Sie nannte die Bereiche Wirtschaft und Justiz. Über eine Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland habe sie mit Davutoglu heute noch nicht gesprochen. Merkel sagte aber: »Ich habe deutlich gemacht, dass man darüber sprechen kann.«

Davutoglu sagte, er hoffe, dass die visafreie Einreise für Türken in den Schengen-Raum und das Rückführungsabkommen für Angehörige von Drittstaaten im Juli 2016 gemeinsam in Kraft treten. Er hoffe außerdem, dass die »eingefrorenen« Verhandlungen zum EU-Beitritt durch die Eröffnung neuer Kapitel nun wieder in Gang kommen.

Die Türkei hat nach offiziellen Angaben aus Ankara 2,5 Millionen Schutzsuchende alleine aus Syrien und dem Irak aufgenommen. Die Türkei hat drei Milliarden Euro für die Versorgung der Menschen im Land gefordert - dreimal so viel wie von der EU bisher angeboten.

Nach Davutoglu traf Merkel Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Gespräche mit Oppositionsvertretern waren nicht vorgesehen.

Opposition kritisiert Besuch Merkels / Wahlkampf für Erdogan

Grünen-Chef Cem Özdemir warf Merkel vor, Erdogan und die islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit dem Besuch kurz vor der Parlamentswahl aufzuwerten. Özdemir pochte auf ein Treffen Merkels auch mit Oppositionsvertretern - doch das ist laut von der Bundesregierung veröffentlichtem Besuchsprogramm nicht vorgesehen. In der Türkei herrscht eine Atmosphäre der Angst und des Bürgerkriegs. Im Sommer 2013 hatte Erdogan - damals als Ministerpräsident - die regierungskritischen Gezi-Proteste niederschlagen lassen. In diesem Jahr verfolgt er unter dem Deckmantel des Anti-Terror-Kriegs seit Monaten linke und kurdische Politiker.

»Ich will keine deutsche Bundeskanzlerin, die Wahlkampf macht für einen autoritären Herrscher«, sagte Özdemir am Samstag auf einem Parteitag der bayerischen Grünen in Bad Windsheim. »Erdogan ist doch nicht die Lösung der Probleme, sondern Erdogan ist eine personifizierte Fluchtursache durch die Politik, für die er steht.«

Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht sagte der »Bild am Sonntag«: »Merkels Anbiederung an den Despot Erdogan ist eine moralische Bankrotterklärung. Ausgerechnet mit dem Brandstifter Erdogan einen Pakt zur Abwehr von Flüchtlingen anzustreben, zeigt das wahre Gesicht hinter Merkels Willkommensmaske.«

Auch Linksfraktionschef Dietmar Bartsch wandte sich gegen Merkels Türkei-Besuch. Man hätte mit der Reise auch noch 14 Tage warten können, sagte er im Deutschlandfunk und bezeichnete es als falschen Weg, der Regierung Erdogan Geld dafür zu bieten, dass sie Flüchtlinge aus Europa fernhalte. Asylsuchende würden sich weder von Mauern noch von Stacheldraht aufhalten lassen. Bartsch verlangte, die Fluchtursachen zu bekämpfen und keine Waffen mehr in Unruheregionen zu liefern.

Ihre Fraktionskollegin, die stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe Sevim Dagdelen, nannte es »schlicht skandalös, dass die Bundesregierung im Rahmen der EU auf eine engere Zusammenarbeit mit der Türkei bei der Flüchtlingsabwehr drängt. Wer in diesem Moment vom türkischen Staatspräsidenten Erdogan den roten Teppich ausrollen lässt, geht über Leichen.« Dagdelen verwies »auf die politische Verfolgung von Journalisten, Gewerkschaftern, Kurden, Armeniern und Aleviten in der Türkei«. Vor diesem Hintergrund sei ein Besuch Merkels in der Türkei »völlig inakzeptabel«. Die Linksfraktion forderte, »den schäbigen Deal mit Erdogan zur Flüchtlingsabwehr sofort auf Eis zu legen«.

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) nahm die Kanzlerin hingegen in Schutz. »Würden wir uns an hehre Prinzipien klammern, dürften wir nicht mit der Türkei reden, nicht mit Russland, nicht mit der Mehrheit der Staaten dieser Welt. Das wäre ein falsches Verständnis von politischer Verantwortung«, sagte er der »Welt am Sonntag«.

CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: »Wir dürfen der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen«. Sie erklärte: »Es gebe erhebliche Defizite beim Umgang mit den wesentlichen Grundrechten, vor allem bei der Meinungs- und Pressefreiheit. Auch die Situation der Christen in der Türkei sei «äußerst kritisch»«.

Auch Merkel selbst verteidigte ihre Reise. »Europa kann seine Außengrenze nicht allein schützen, wenn wir nicht auch ein Abkommen mit der Türkei schließen«, sagte Merkel am Samstag auf einem Kreisparteitag der CDU in ihrem Wahlkreis in Grimmen. Die Kanzlerin kündigte vor dem Besuch an, auch das Thema Menschenrechte werde eine Rolle spielen. Trotz der eskalierenden Gewalt zwischen Regierung und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zeigte Merkel sich grundsätzlich offen für die Einstufung der Türkei als sicherer Herkunftsstaat.

Auch der EU-Parlamentarier Elmar Brok (CDU) äußerte angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen Verständnis für den Besuch Merkels in der Türkei. »Die Bundeskanzlerin hat keine andere Wahl, als mit Erdogan zu verhandeln«, sagte er der »Bild am Sonntag«. »Eine Lösung der Flüchtlingsproblematik geht nur mit der Türkei, auch wenn der Zeitpunkt kurz vor den Wahlen unglücklich ist«, ergänzte er.

In der Türkei wird am 1. November ein neues Parlament gewählt. Erdogans AKP hatte bei der Parlamentswahl Anfang Juni erstmals seit dem Jahr 2002 ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Für Erdogan, der die Befugnisse des Präsidentenamts stärken will, war dies ein schwerer Rückschlag. Da es nicht gelang, eine Regierungskoalition zu bilden, wurden Neuwahlen angesetzt.

Laut einer von der »Bild am Sonntag« veröffentlichten Umfrage befürwortet eine Mehrheit von 66 Prozent der Deutschen ein politisches Zugehen Merkels auf Erdogan, 23 Prozent sind dagegen. Unter den Unionsanhängern liegt die Zustimmungsrate demnach bei 74 Prozent. Für die repräsentative Erhebung befragte das Meinungsforschungsinstitut Emnid laut der Zeitung am Donnerstag 507 Menschen. Agenturen/nd

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