Es gibt nichts Unsittlicheres als Krieg

Pulitzer-Preisträger Nick Út über das Foto, das ihn über Nacht berühmt machte, und die Macht der Bilder

Der Fotograf, der als Huynh Cong Út 1951 in der Provinz Long An in Südvietnam geboren wurde, arbeitete für Associated Press (AP) in Saigon. 1972 erhielt er für seine berühmte Aufnahme den Pulitzer-Preis und in der Folge viele weitere Auszeichnungen.

Ich bin ein glücklicher Mann», sagt Nick Út. «Weil ich das Foto schoss, das den Vietnamkrieg beendete.» In der Tat sind seine Aufnahmen, vor allem ein Schnappschuss, vom Napalmangriff auf das Dorf Trang Bàng am 8. Juni 1972 um die Welt gegangen, haben die Proteste gegen den Krieg in Indochina begleitet und bestärkt. «Napalm-Girl» wurde zu einem Symbol für die Schrecken moderner Kriege und eine Ikone der Friedensbewegung.

Der Fotograf, der als Huynh Cong Út 1951 in der Provinz Long An in Südvietnam geboren wurde, arbeitete für Associated Press (AP) in Saigon. 1972 erhielt er für seine berühmte Aufnahme den Pulitzer-Preis und in der Folge viele weitere Auszeichnungen. Nach diversen Einsätzen für AP in verschiedenen Staaten eröffnete er 1993 ein Büro in Ho-Chi-Minh-Stadt, wie die ehemalige Hauptstadt Südvietnams seit der Befreiung und Wiedervereinigung vor 40 Jahren heißt. Út lebt heute in Los Angeles, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Den Fotografen, der zur Eröffnung der Ausstellung «Mediating War» (Galerie Sprechsaal) nach Berlin kam, interviewte Karlen Vesper.

Herr Út, Sie sind berühmt. Wie lebt es sich mit weltweitem Ruhm?
Naja, weniger ich als vielmehr das Foto, das ich am 8. Juni 1972 in Trang Bàng machte, ist weltberühmt. Natürlich kennen die Berufskollegen meinen Namen, aber weltweit bekannter als ich ist das kleine Mädchen, das mit ihren Geschwistern vor den Napalmbomben flieht.

Wie kam es zu dieser Aufnahme?
Ich arbeite für AP, für Associated Press. Die US-Armee zog sich aus Vietnam zurück.

US-Präsident Nixon nannte das die «Vietnamisierung» des Krieges.
Ja, und ich erhielt von Horst Fass, ein deutscher Fotograf, der das AP-Büro in Saigon leitete, den Auftrag, nach Trang Bàng, einem Dorf an der Nationalstraße Nr. 1, 25 Kilometer nordwestlich von Saigon, zu fahren. Dort würde es bald zu Kämpfen mit den Nordvietnamesen kommen. In aller Frühe, um 7.30 Uhr, war ich an jenem 8. Juni 1972 vor Ort. Es waren schon andere Kriegsberichterstatter da, David Burnett vom «Time Magazine», Fox Butterfield von der «New York Times» und Christopher Wain vom BBCsowie weitere ausländische Kollegen. Soldaten der 25. Division der südvietnamesischen Armee hatten Trang Bàng umstellt.

Man vermutete dort Nordvietnamesen.
Die meisten Dorfbewohner hatten ihre Häuser aus Angst vor den bevorstehenden Gefechten verlassen. Manche suchten im Tempel Zuflucht, andere in den umliegenden Feldern. Wir waren in spannender Erwartung, was geschehen würde. Wir machten ein paar Fotos, witzelten, warteten. Die Mittagsstunde war schon lange vorüber, da kam das erste Flugzeug und warf eine Bombe ab.

Der südvietnamesische Kommandeur hat um Unterstützung der Luftwaffe gebeten.
Ich hielt meine Kamera hoch und fing den Moment ein, als das Flugzeug die Bombe ausklinkte. Bald darauf erschien der nächste Skyraider und warf vier Kanister ab. Als sie auf den Boden aufschlugen, am Rande des Dorfes und auf der Straße vor uns, gab es eine höllische Explosion. Ich drückte wieder und wieder auf den Auslöser. Ich hatte vier Leica-Kameras bei mir, um nicht erst Filmrollen wechseln zu müssen. Grellgelbe Flammen schossen in den Himmel. Und dann rollte eine enorme Hitzwelle auf uns zu. Das Flugzeug hatte Napalm abgeworfen.

Ein tückischer Kampfstoff, den die US-Army schon zu Ende des Zweiten Weltkrieges und dann im Korea-Krieg einsetzte. Über Vietnam soll sie 400 000 Tonnen abgeworfen haben.
Das weiß ich nicht so genau. Was ich aber weiß, selbst erlebt habe, ist die furchtbare Wirkung von Napalm. Vor meinen Augen spielte sich eine Tragödie ab.

Es war, wie es euphemistisch heißt, «friendly fire». Das Bombardement traf südvietnamesische Soldaten und Dorfbewohner.
So ist es. Wir konnten zunächst gar nichts erkennen. Als die Rauchschwaden sich verzogen, sahen wir sie: Fünf, sechs Kinder kamen auf uns zugerannt, schreiend, mit schmerzverzerrten Gesichtern. Und eine alte Frau, die ein Baby in den Armen hielt. Dahinter trabte ein halbes Dutzend südvietnamesischer Soldaten. Sie schienen auch verstört, schauten sich immer wieder ungläubig um. Das Dorf war in dunklen Rauchwolken verschwunden.

Und Sie machten weiter eine Aufnahme nach der anderen?
Wie die anderen auch. Plötzlich stutzte ich. Wieso ist das Mädchen nackt, das direkt auf mich zu lief, quasi in mein Objektiv hinein? Sie schrie etwas, was ich zunächst nicht verstand, und hielt die Arme eigenartig abgespreizt. Als sie dann an mir vorbeigelaufen war und ich mich nach ihr umdrehte, sah ich es: Ihr ganzer Rücken war verbrannt, die Haut hing in Fetzen herab, einige Klumpen von schwarzem Fleisch klebten noch an ihr. «Oh, my God, oh, my God», dachte ich nur. «Das Mädchen stirbt.»

Hörten Sie da auf zu fotografieren?
Ja. Ich konnte nicht mehr. Kein einziges Foto hätte ich an diesem Tag noch machen können. Ich zitterte am ganzen Leib. Mir stiegen Tränen in die Augen. Das nackte Mädchen schrie: «Nong qua, nong qua!» Heiß, heiß, es ist so heiß! Ich verstand sie als einzige. Meine ausländischen Kollegen konnten kein Vietnamesisch. Ich goss Wasser über ihren Rücken. Da schrie sie noch lauter auf. Dann gab ich ihr zu trinken und legte ihr vorsichtig eine Decke über die verbrannten Schultern. Meine Kollegen taten es mir nach, reichten den Kindern ihre Feldflaschen. Dann nahm ich die alte Frau wahr. Sie sprach unaufhörlich auf das schlaff und leblos in ihren Armen liegende Baby ein. Es war völlig verkohlt. Was aus der Entfernung ausgesehen hatte wie verrutschte Söckchen, war Haut, die sich von seinen kleinen Füßchen abgelöst hatte. Ein Junge von elf oder zwölf Jahren – wie ich später erfuhr, war er der Bruder des nackten Mädchens – schimpfte lauthals: «Scheißbomber, Scheiß Bomber!»

Und was taten Sie und Ihre Kollegen daraufhin?
Alle waren entsetzt, schockiert. Aber wir hatten einen Job zu erledigen. Wir mussten unsere Aufnahmen so schnell wie möglich in unsere Büros bringen, damit sie rasch an die Agenturen weitergeleitet werden konnten. Da kam ein Mann auf uns zu und bettelte uns an, seine Tochter in ein Krankenhaus zu bringen. Ich war der einzige mit einem größeren Fahrzeug. Meistens fuhr ich zu meinen Einsätzen mit dem Moped, einer kleinen Honda. Aber an diesem Tag habe ich von AP glücklicherweise den Van zur Verfügung gestellt bekommen. Wir hoben das Mädchen vorsichtig in den Wagen und nahmen noch eine Frau mit, die der Vater des Mädchens anschleppte. Sie konnte sich nicht mehr allein auf den Beinen halten. Wir fuhren nach Cu Chi, wo sich das nächstliegende Hospital befand.

Mussten Sie nicht befürchten, noch in Gefechte zu geraten?
Ja, das war ungewiss. Doch wir blieben verschont. Die Nationalstraße war aber verstopft von Fliehenden. Wir kamen nur mühsam voran. Ich bangte um das Mädchen. Sie saß gekrümmt auf ihrem Sitz, rührte sich nicht und wimmerte vor Schmerzen. Ich hatte Angst, wir würden es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen. Als wir endlich, nach fast einer Stunde Fahrt, am Bac-Ha-Hospital angelangt waren, wollte man uns abwimmeln. Man könne keine Patienten mehr aufnehmen, sei überbelegt. Ich zeigte meinen Presseausweis und erklärte, dass ich für AP arbeite und wenn sie das Mädchen und die Frau nicht aufnehmen, würde die ganze Welt von ihrer Unbarmherzigkeit erfahren. Das half.

Und dann fuhren Sie zurück nach Saigon?
Natürlich. Ich musste doch die Filme abgeben. Sieben Filme habe ich an diesem 8. Juni verschossen. Auf dem siebenten war die Aufnahme, die um die Welt gehen sollte. Das erschien mir wie ein himmlisches Zeichen.

Wieso das?
Ich hatte zehn Geschwister, neun Brüder und eine Schwester. Das siebte Kind meiner Eltern war mein Bruder La. Auch er hat für AP gearbeitet, vor mir. Er starb 1965, war in einen Kugelhagel geraten und erlag seinen Schussverletzungen. Er ist nur 27 Jahre alt geworden. Mir, dem jüngerem Bruder, hat er immer von den schrecklichen Dingen erzählt, die er bei seiner Arbeit erlebte und von seinem Wunsch, ein Foto zu machen, das den Krieg beendet.
Als ich meine Filme am 8. Juni abgegeben habe (Út blickt hoch und faltet die Hände wie zum Gebet) sagte ich: «La, ich glaube, ich habe heute ein Foto gemacht, das dem Wahnsinn des Krieges endlich ein Ende bereitet.»

Sie wussten es bereits an diesem Tag?
Ich fühlte es instinktiv. Und so erging es auch meinem Chef, Harry Faas, der unter den vielen Aufnahmen des Tages dieses eine Foto auswählte: «Das ist es!» Und zu mir sagte er: «Nick, Sie haben heute gute Arbeit geleistet.» Auch David Burnett, der in Trang Bàng dabei war und an diesem Abend noch in unserem Büro vorbeischaute, war dieser Ansicht. Am nächsten Tag, am 9. Juni, war mein Foto auf der Titelseite der «New York Times» und erschien auch in anderen Zeitungen weltweit.

Und wie fühlten Sie sich da? Sie waren gewiss stolz?
Ich war stolz und zugleich zutiefst traurig. Alle gratulierten mir: «Nicky, du hast es geschafft. Du bekommst den Pulitzer-Preis.» Ich musste aber immer wieder an das arme kleine Mädchen denken, die neunjährige Kim Phúc, die mit dem Leben rang. An ihre Geschwister, die Eltern, die Großmutter... (Út wendet sich ab.) Sorry, noch heute übermannen mich die Gefühle.

Wir können unterbrechen.
Nein, nein, ist schon o.k.

Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Vornamen «Nick» gekommen?
Meine ausländischen Kollegen konnten Huynh Cong nicht aussprechen und beschlossen: «You need a nickname.» (Du brauchst einen Spitznamen.) Fortan hieß ich Nick.

Das Foto wäre beinahe nicht gedruckt worden, weil man es in New York als «unsittlich» empfand.
Es gibt nichts Unsittlicheres als Krieg! Aber Sie haben recht. Man hatte in New York Vorbehalte, weil auf dem Foto ein nacktes Mädchen zu sehen war. Horst Faas hat sich aber durchgesetzt. Er drohte den Zweiflern im Heimatbüro, sich ins nächste Flugzeug zu setzen und ihnen die Hölle heiß zu machen, wenn sie meine Aufnahme nicht freigeben. Das Foto offenbart, was Krieg bedeutet, zeigt die nackte, grausame Wahrheit. Warum war denn das Mädchen nackt? Weil die Kleider verbrannt sind, und das Mädchen sich versengte Stoffreste von der Haut gerissen hat.

Es grenzt an ein Wunder, dass sie überlebte.
So ist es. Christopher Wain vom BBC hat sich ein paar Tage, nachdem ich Kim im Provinzhospital abgeliefert hatte, auf ihre Spur begeben. Sie war inzwischen in ein Kinderkrankenhaus in Saigon verlegt worden. Dort kümmerte man sich nicht um sie, weil man der Meinung war, sie sei habe keine Überlebenschance. Wain hat es geschafft, dass Kim ins Barsky-Hospital gebracht wurde, das unter amerikanischer Verwaltung stand. Dort hat Dr. My, eine Vietnamesin, sie operiert. Kim musste sich später noch vielen weiteren Operationen unterziehen und hat noch heute Schmerzen.

Wie steht Phan Thi Kim Phúc zu dem Foto, das auch sie über Nacht weltweit bekannt gemacht hat?
Kim sagte zu mir einmal: «Onkel Nick, dein Foto hat mich gerettet.» Phúc heißt im Vietnamesischen übrigens Glück. Kim hatte Glück. Ich bin ein glücklicher Mann, weil ich das Foto schoss, das den Vietnamkrieg bendete.«

Sie sind noch mit Kim Phúc im Kontakt?
Ja, wir telefonieren fast jede Woche miteinander. Und wir treffen uns immer mal wieder, bei verschiedenen Gelegenheiten.
Kim hatte es nicht leicht durch ihren Bekanntheitsgrad. Sie musste unzählige Interviews geben, wurde rumgereicht, von südvietnamesischen Provinzfunktionären ausgenutzt und vorgeführt und hatte selbst kaum etwas davon. Ihre Familie blieb arm. Kim beschwerte sich dann bei der Regierung in Hanoi. Sie durfte in Havanna Medizin studieren. Dort hat sie ihren Mann, einen nordvietnamesischen Kommilitonen, kennengelernt. Ihre Hochzeitsreise 1992 durften sie nach Moskau machen. Kim wollte aber nicht mehr zurück nach Vietnam. Auf der Rückreise nutzten sie einen Zwischenstopp und beantragten Asyl in Kanada ...

Der Rummel um sie wurde der jungen Frau zu lästig?
Sie wollte ihr eigenes Leben leben. Aber das war auch in Kanada nicht so einfach. Sie ist zu berühmt. Ich lebte schon in Los Angeles, da wurde ich eines Tages in Abwesenheit angerufen. Man gab mir eine Nummer, auf der ich zurückrufen sollte. Ich war verwundert: »Toronto? Ich kenne niemanden dort.« Ich wählte die Nummer und - wow: »Hier ist Kim. Onkel Nick, du musst mir helfen, ich bin in Kanada und bekomme bald ein Baby...«

Ein US-Vietnamveteran namens John Plummer behauptete 1996, für den Napalmangriff auf Trang Bàng verantwortlich gewesen zu sein; er bat Kim Phúc öffentlich – medial groß inszeniert – um Vergebung.
Das war eine Lüge. Er war nur Captain, und in diesem Rang gerät man nicht in die Verlegenheit, einen solchen Luftangriff zu befehligen. Das wurde recht bald klargestellt.

Viele US-Soldaten kehrten traumatisiert aus diesem Krieg zurück.
Das stimmt, aber ich weiß nicht, ob das bei ihm der Fall war. Er wollte wohl in die Schlagzeilen.

Sie waren noch sehr jung, als Sie bei AP anfingen.
Ich war 15. Die Witwe meines Bruders hat mich zu AP gebracht. Und seit dem ist Associated Press meine Familie.

Eines ihrer ersten Fotos für AP zeigt einen kleinen vietnamesischen Jungen, der...
(Út lacht) ... einem US-Soldaten die Schuhe putzt.

Und ein anderes zeigte einen buddhistischen Mönchen, der sich aus Protest gegen den Krieg selbst verbrennt. Darf man so ein Foto machen?
Schrecklich, sehr schrecklich. Viele Mönche haben sich damals aus Protest gegen den Krieg selbst verbrannt. Auch andere haben brennende Mönche gefilmt. Es ist schlimm, sehr schlimm, wenn Menschen sich zu dieser Art des Protestes gezwungen sehen. Es ist nicht leicht, als Fotoreporter da seiner Pflicht nachzukommen. Aber das gehört zu unserem Job.

Es gibt eine weitere fotografische Ikone, die gleich Ihrem Bild zu einem Symbol wurde: Eine Exekution auf offener Straße, ausgeführt vom Saigoner Polizeichef persönlich. Gehört eine solche Aufnahme auch zum Job eines Fotoreporters?
Das Foto hat Eddie Adams gemacht, auch ein AP-Reporter. Er kommentierte es später: »Der General tötete den Vietcong, ich tötete den General mit meiner Kamera.« Fotografen müssen die Schrecken des Krieges dokumentieren. Es ist eine andere Frage, ob die Aufnahme dann auch veröffentlicht wird. Diese Entscheidung gleicht stets einer Gratwanderung. Verantwortlich dafür sind dann aber andere.
James Nachtway, der für den »New Yorker« an allen möglichen Krisen- und Kriegsorten der Welt war, sagt: »I have been a witness, and these pictures are my testimony.« (Ich war Zeuge, und diese Bilder sind meine Zeugnisse.)

Was wäre für Sie ein Tabu, wenn Sie über eine Veröffentlichung entscheiden müssten?
Tote zu zeigen wie auf einem Foto aus dem Irakkrieg, worauf an den Füßen aufgehängte, geschundene Leichname zu sehen sind, davor grölende, tanzende Menschen.

Wegen der Persönlichkeitsrechte auch nach dem Tod?
Weil es falsch ist. Und weil solche Fotos die Menschen nicht berühren, nicht aufrühren. Zwei oder drei Tote mehr oder weniger. Es wird so viel gestorben auf der Welt. Tote Körper erzählen keine Geschichte mehr. Menschen sind betroffener, wenn sie in Gesichter schauen, die von Schmerz, Leid und Verzweiflung sprechen.

Das ist also das Geheimnis Ihres Fotos mit Kim Phúc?
Ja. Kinder rennen um ihr Leben. Das lässt keinen Menschen ungerührt.

Dieser Tage wurde heftig über das Foto vom kleinen toten Jungen am Strand von Bodrum debattiert. Wurde mit der Veröffentlichung die Würde des nur drei Jahre alt gewordenen Alan Kurdi verletzt?
Die Würde des Jungen wurde verletzt, als er durch den Krieg mit seiner Familie gezwungen war, die Heimat zu verlassen. Die Fotografin, Nilüfer Demir, hat professionell reagiert. Ein Schnappschuss. Ein lautloser Schrei. Eine stumme Anklage.

Sie haben Kim Phuc damals gerettet, nicht alle Kollegen sind dazu bereit, wenn sie Aktualität oder den Triumph der Konkurrenz riskieren.
Ich verurteile niemanden. Das muss jeder selbst mit seinem Gewissen ausmachen. Kevin Carter machte das Bild vom kleinen, schrecklich unterernährten sudanesischen Mädchen, das vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Hinter ihm lauert ein Geier auf den Tod des Kindes. Carter erhielt 1994 den Pulitzer-Preis. Und beging dann Selbstmord. Weil er die Erinnerung und die Selbstvorwürfe nicht mehr ertragen konnte, den Geier nicht fortgescheucht und dem Kind geholfen zu haben. Er hinterließ eine siebenjährige Tochter. – Ich glaube, wenn Kim nicht überlebt hätte, hätte ich mich auch erschossen.

Wie kam es eigentlich, dass ausgerechnet Sie eine millionenschwere Partydame fotografierten. Auch das Bild von der weinenden Paris Hilton, die wegen Trunkenheit am Steuer ins Gefängnis musste, ging um die Welt.
Ja. Und das Verrückte ist: Es war auch ein 8. Juni, an dem ich sie fotografierte. Das war 2007. Ich bekam den Auftrag, zum Gefängnis zu fahren und zu versuchen, eine Foto von ihr zu machen. Als ich ankam, warteten schon viele Kollegen mit der Kamera im Anschlag. Am Eingang des Gefängnisses standen ihre Eltern. Die anderen hofften auf ein Bild mit allen dreien. Ich wartete nicht ab. Als das Auto an mir vorbeifuhr, machte ich eine Aufnahme durchs Fenster. Am nächsten Tag wurde es in »ABC Morning« gezeigt und dann rund um die Welt - von Hollywood bis Hanoi.

Sind Sie unter die Paparazzos gegangen?
Um Gottes Willen. Zum einen ist mir das Gedränge und Gehetze lästig. Zum anderen können Promifotos in den seltensten Fällen eine wirklich interessante Geschichte erzählen, sie sind eher banal und übermorgen bereits vergessen. Und drittens meide ich solche Einsätze, weil mich die Paparazzos erkennen und dann auf mich zustürmen und mich fotografieren wollen: »Nicky, Nicky, schau mal zu mir herüber!«

Das Foto von Paris Hilton hat Ihnen gewiss ein stolzes Sümmchen eingebracht?
Nein. Ich bin bei AP angestellt, also hat die Agentur das Honorar erhalten.

Sie haben einen Sohn und eine Tochter. Sind sie auch Fotografen?
Sie haben Kameras und machen gute Fotos, üben aber solidere Berufe aus. Mein Sohn ist in der Elektronikbranche, meine Tochter Buchhalterin.

Sind Ihre Kinder stolz auf den Vater, der ein weltberühmtes Foto machte?
Ja, obwohl sie erst spät davon erfuhren. Sie sind eines Tages von selbst darauf gestoßen, beim Googeln im Internet. Bis dahin habe ich Ihnen nie erzählt, was ich am 8. Januar 1972 vor Trang Bàng erlebt habe.

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