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Legenden, Erinnerungen, Wurzeln

Gesa Olkusz begibt sich auf eine fantastische Reise auf der Suche nach einem Helden, den es so vielleicht nie gegeben hat

Wie schreiben über die Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts, wie das Unverarbeitbare verarbeiten? Radikale Konfrontation mit Schuld und Verantwortung ist nicht das, was die junge, in Berlin lebende Autorin Gesa Olkusz in ihrem Debütroman »Legenden« antreibt.


Gesa Olkusz: Legenden. Roman.
Residenz Verlag. 192 S., geb., 19,90 €.


Olkusz stellt die Wahrhaftigkeit des Tradierten, dessen, was die Heldengeschichten einer Kindheit waren, infrage. Mit »Legenden« geht sie dahin, wo die Familie etwas verklärt, um weiterleben zu können. Dabei geht es ihr nicht um die brachiale Dekonstruktion einer Lüge, den totalen Zusammenbruch. Was sie schildert, ist die Empfindsamkeit einer Familie, deren große Erzählung nicht stimmt, die nie wahr war, wo jeder seine eigene Wahrheit hat.

Alles beginnt mit dem scheinbaren Selbstmord des jungen Filbert, der allerdings nur stehend auf einem Brückengeländer nach einem Paar Stiefel an einem Laternenpfahl hascht. Er will sie seiner Tante bringen, in der Überzeugung, er hätte sie einmal an ihr gesehen. Das »Tantchen« ist eine biestige Person, kauzig noch dazu. Aber sie zieht Filbert hinein in dieses Familienkonstrukt aus Schein und Sein. Der Großvater Stanis, so hat es Filbert von seinem Vater erzählt bekommen, war ein Held. Ein Widerstandskämpfer, der in seinem Heimatdorf in Osteuropa Deportierte aus einem Lastwagen befreite und ihnen die Hand zur Flucht reichte. So war er doch, oder?! Olkusz gelingt es, von der Befreiungsszenerie sprachlich ein überdimensioniertes Gemälde der Aufklärung zu zeichnen, Lichtpunkt ist die gute Tat. Alles fügt sich poetisch ineinander, die panischen Soldaten, die einen Mechaniker suchen, aggressive Hunde, deren aufgestelltes Fell die Angst in die Häuser des Dorfes trägt.

Zum mysteriösen Mittelpunkt der Geschichte wird Aurelisuz, Urenkel des Deutschen, der Stanis heroische Tat verriet und ihn zur Flucht zwang. Aureliusz hat eine Mission, die sich nicht aus Schuld und Verantwortung speist. Er will die Geschehnisse von damals wiedergutmachen. Geschickt umgesetzt ist das durch die Transzendenz, die seine Person durch alle Zeiten reisen lässt. Er ist zu jung, um das Handeln seines Urgroßvaters an einem überlebenswichtigen Harmoniebedürfnis auszurichten, das enge Familienbande gerne entwickeln.

Der Roman erlaubt keine Sekunde Konzentrationsverlust. Obwohl nur knapp 200 Seiten lang, eröffnet sich nach einem Satz eine andere Welt. Etwa wenn Filbert erfährt, dass sein Großvater nicht bei einem Unfall in seiner neuen Heimat Kanada ums Leben gekommen ist, sondern noch lebt.

Das Erwartete wird eingerissen, umgelenkt, neu gedacht. Filberts Reise über mehrere Kontinente auf der Suche nach der Wahrheit wird zur melancholischen Karussellfahrt und zeigt, wie sehr eine ganze Familie unter der Leere leidet, die ein Mensch hinterlassen kann, wenn jeder das Geschehene für sich allein mit sich trägt. Dabei ist es das Verlangen der jüngsten Generation, aufzuarbeiten und die Protagonisten von damals mit ihrem Schweigen im Heute zu konfrontieren. Das alles hat nichts vom harten Aufarbeiten eines Schuldeingeständnisses, wie es die 1960er Jahre von Tätern und Mitläufern verlangt haben, sondern es geht um die zutiefst persönlichen Narben, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat und die bis heute bei den Nachgeborenen schmerzen. Am Ende des Romans tauchen die Stiefel der Tante wieder auf. Sie passen ihr nicht, aber Filberts großer Liebe Mae. Die Botschaft kann eindeutiger nicht sein.

Mit »Legenden« hat Gesa Olkusz einen Roman geschrieben, der Brücken baut zu einer Zeit, die wir zu verlieren drohen. Mehr kann ein Roman nicht leisten.

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