Argentinien steht vor einer Zäsur
Der rechte Mauricio Macri liegt vor der Stichwahl am Sonntag vor dem Regierungskandidaten Daniel Scioli
Wer in der Provinz Buenos Aires gewinnt, gewinnt die Präsidentschaft: So lautet die Faustregel für Präsidentschaftswahlen in Argentinien. Denn dort leben über ein Drittel der rund 32 Millionen Wahlberechtigten. Vor allem im Conurbano, dem dicht besiedelten Gürtel rund um die Hauptstadt Buenos Aires. Zwar reiht sich hier eine peronistische Hochburg an die andere, aber vor vier Wochen wählten die Provinzler Mauricio Macris Kandidatin María Eugenia Vidal zur zukünftigen Gouverneurin, beide gehören dem rechten Parteienbündnis Cambiemos an.
Zwar lief Macri im ersten Wahlgang am 25. Oktober nur an zweiter Stelle ein, doch seine 34 Prozent lagen über den Erwartungen. Nun bescheinigen alle Umfragen dem noch amtierenden Bürgermeister der Hauptstadt einen komfortablen Vorsprung auf Daniel Scioli. Der Kandidat der peronistischen Regierungspartei Frente para la Victoria gewann mit 37 Prozent die erste Runde.
Die Stimmenverhältnisse im Conurbano dürften am Sonntag wahlentscheidend sein. Wie eine Schneise zieht sich die Nationalstraße 3 durch La Matanza. Zwei Millionen Menschen leben im größten Bezirk des Conurbano. Hier standen 2001, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise Tausende von Arbeitslosen und boten sich als Tagelöhner an. Heute geht es im Stop und Go der Blechlawine vorbei an den zahlreichen kleinen industriellen Schuh-, Textil- und Metallbetrieben, in denen viele wieder Arbeit gefunden haben. »Damals lebten wir buchstäblich von der Hand in den Mund«, erzählt Román Rodriguez. Auch sein Vater stand an der Ruta 3. Der 24-Jährige studiert Wirtschaftswissenschaften an der Universidad Nacional de La Matanza. Dass er sein Studium der Kirchner-Regierung (2003 - 2007 Néstor, seitdem Cristina) zu verdanken hat, ist ihm bewusst. »Dank der Kirchnerpolitik haben meine Eltern wieder Arbeit gefunden, und deshalb kann ich auf die Uni.« Seit 2004 arbeitet er wieder als Dreher, seine Mutter als Näherin. In prekären Arbeitsverhältnissen, wie fast alle, der informelle Sektor ist groß.
Die Stichwahl bereite ihm schlaflose Nächte, wie so vielen, die trotz Wahlpflicht keinem Konservativen ihre Stimme geben wollen, erzählt Román Rodriguez. »Dir bleibt nur die Wahl zwischen zwei Übeln.« Doch sobald es um die Wirtschaft geht, wird Román sachlich. »Die Wirtschaftspolitik der Kirchners war eine groß angelegte keynesianische Nachfragepolitik, Kaufkraftsteigerung durch Subventionen und Anreize auch für die unteren Schichten, flankiert mit Sozialprogrammen, finanziert durch den Boom der Rohstoffpreise.« Aber es sei nicht genug investiert worden.
Heute sind die Rohstoffpreise gesunken und damit die staatlichen Einnahmen aus den Exporten. »Egal ob Scioli oder Macri, das Pendel wird, zur liberalen Angebotspolitik umschlagen.« Es werde Einsparungen geben und Kredite für Investitionen müssten aufgenommen werden. Möglich sei es, dass Scioli das sanfter macht als Macri. Und möglich sei auch, dass Scioli mehr auf eine nationale Entwicklung setze und Macri keine Berührungsängste mit dem Internationalen Währungsfonds hat. Aber beide seien politische Ziehkinder der neoliberalen Ära von Carlos Menem, und der sei schließlich auch mit sozialen Versprechungen gestartet.
An der Avenida Luro in Laferrere steht Sebastián Apablaza und macht Wahlkampf für Mauricio Macri. In der größten Siedlung des Bezirks leben 200 000 Menschen. »Clase baja - Unterschicht«, sagt der 38-Jährige. Vier von zehn Bewohnern hängen von einem der 18 staatlichen Sozialprogramme. Deshalb greife die Angstkampagne, dass mit Macri die staatlichen Unterstützungen gestrichen werden, dass es zu Massenentlassungen kommt, weil den Betrieben die Beihilfen nicht mehr gezahlt werden würden.
Drei Blocks weiter verteilt Christian Peréz Wahlkampfzettel, die auflisten, was Macri alles zusammenstreichen werde: Gesundheit, Bildung, Rente und Arbeitsplätze. »Nur Scioli garantiert, dass dies nicht so kommt«, sagt der 28-jährige Geschichtslehrer. Und deshalb werde Scioli am Sonntagabend die Nase, wenn auch knapp, vorn haben.
Fest steht, dass Argentinien nach zwölf Jahren links-progressiver Kirchnerregierungen nach rechts rücken wird. Ob Scioli oder Macri das Rennen macht, ist noch nicht entschieden. Rund zehn Prozent seien noch unentschlossen, so die Umfragen. Und um die ging es auch in der großen Fernsehdebatte der zwei Kandidaten am vergangenen Sonntag. In 53 Prozent der Haushalte waren die Geräte eingeschaltet. Zu sehen war ein souveräner und gelassener Mauricio Macri, der seinen Kontrahenten als Fortsetzung einer korrupten und klientelistischen Kirchner-Regierung beschrieb. Und einen angespannt kämpfenden Daniel Scioli, der Macri als Rückkehr des Neoliberalismus der 1990er Jahre charakterisierte, der Argentinien schon einmal in den Abgrund führte. Es ist gut möglich, dass diese Botschaft bei den noch Unentschlossenen Wirkung pro Scioli zeigt.
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