Deutsche Zustände

Rechte verübten seit 2010 hunderte Angriffe auf Abgeordnete und ihre Büros / 2 von 3 rechten Anschlägen treffen die Linkspartei / Regierung sieht derzeit »keinen Trend zur systematischen Bedrohung«

  • Lesedauer: 4 Min.

Am 9. Oktober beschmierten Neonazis das Büro der Linkspartei-Politikerin Katharina König im thüringischen Saalfeld mit einem Hakenkreuz und sprühten »Judenhure« an das Schaufenster. Fünf Tage zuvor war an einem Büro der LINKEN in Bernau bei Berlin der Briefkasten zerstört worden - die Täter hinterließen eine Botschaft: »Antifa aufs Maul, nein zum Heim«. Am Vortag hatten Neonazis im sächsischen Freital das dortige Büro der Linkspartei überfallen und verwüstet - nur wenige Stunden, nachdem in Zittau eine Wahlkreis-Adresse der Linken mit Sprengstoff angegriffen wurde.

Eine Woche im Deutschland des Jahres 2015. Immer wieder waren in den vergangenen Wochen neue Angriffe bekannt geworden. Bis zum 9. Oktober wurden bundesweit bereits mindestens 54 Parteibüros attackiert, in 38 Fällen traf es »Gebäude, Büroräume, Briefkästen« der Linkspartei. In nur drei dieser Fälle konnten überhaupt Verdächtige ermittelt werden.

Erfasst?

Anfang der Woche wurden neue Zahlen über Angriffe auf Parteibüros in Brandenburg bekannt. Insgesamt registrierten die dortigen Behörden bis Ende September 23 Angriffe auf Adressen von Abgeordneten und Parteien.

Der Unterschied zu den Zahlen, die von der Bundesregierung genannt werden und Grundlage für die nebenstehende Grafik bilden, ist deutlich: In der Liste des Bundesinnenministeriums werden für Brandenburg bis Anfang Oktober 2015 nur 11 Attacken gezählt.

Die Differenz lässt sich nicht damit erklären, dass die Brandenburger Statistik auch Attacken auf Büros der AfD einbezieht – diese tauchen in den Bundeszahlen nicht auf. Laut Brandenburger Behörden war die Rechtspartei in den ersten drei Quartalen des Jahres aber nur ein Mal betroffen.

Für die Brandenburger LINKE-Politikerin Andrea Johlige sind die Zahlen so oder so »ein Indiz für die weitere Verrohung der politischen Kultur«. Diese war auch schon in Sachsen beklagt worden. 25 Angriffe auf Büros zählte die linke Landtagsfraktion im Freistaat seit Jahresbeginn. Allein das Büro der linken Bundestagsabgeordneten Caren Lay in Hoyerswerda wurde laut diesen Angaben binnen weniger Jahre 19 Mal zum Ziel von Angriffen. Davon taucht in der Bundesstatistik lediglich ein Fall auf: Drei Männer überfielen das Büro und bedrohten die Mitarbeiter. nd

Wie exakt die Statistik ist, weiß niemand genau. Eine »automatische Ermittlung« solcher Angriffe findet nicht statt. Insgesamt 461 Fälle wurden von Anfang 2010 bis Ende Oktober 2015 registriert. Die Zahlen hat das Bundesinnenministerium »mittels manueller Durchsicht« aus den Straftaten herausgefiltert, die »unter dem Angriffsziel ›Partei‹ im Phänomenbereich ›politisch motivierte Kriminalität rechts‹« aufgelistet sind. Die meisten Attacken auf Parteibüros gab es in Sachsen, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in Deutschland jeden dritten Tag ein Angriff auf eine Partei oder einen Politiker verübt wird.

Das Ministerium, das die Daten über die Anschläge jetzt herausgegeben hat, scheint nicht allzu alarmiert. »Ein bundesweiter Trend etwa zu einer strategischen und systematischen Einschüchterung bzw. Bedrohung von Politikern ist derzeit nicht feststellbar«, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.

Die offiziellen Zahlen scheinen das zu belegen. Registrierte man 2010 insgesamt 110 Angriffe auf Parteibüros waren es im Jahr darauf 113, im Folgejahr wurden 93 Attacken gezählt. 2013 ging die Zahl auf 43 zurück, 2014 stieg sie wieder auf 48 an. Eine Zahl, die in diesem Jahr schon übertroffen wurde.

Hauptziel der rechtsradikalen Attentäter ist die Linkspartei - 328 Angriffe auf die Sozialisten wurden registriert, das sind über 70 Prozent. Auch wenn es »sich überwiegend um Sachbeschädigungen an Gebäuden sowie Bedrohungen« handelt, wie die Bundesregierung feststellt, und Brandanschläge oder tätliche Angriffe »eher die Ausnahme« bilden, ist doch der terroristische Charakter dieser alltäglichen Gewalt gegen Parteien nicht zu leugnen.

Auch in Berlin geht man eher davon aus, dass die Zahl der Anschläge zunimmt. Es sei »mit einer Verschärfung der Konfrontation zu rechnen, wenn eine als negativ empfundene Haltung durch Politiker thematisiert oder eine solche durch emotionalisierte Diskussionen der jeweiligen Szene verstärkt wird«. Was da in bürokratischer Sprache gemeint ist, formuliert die LINKE-Politikerin König so: Ziel der Hassattacken seien »vor allem Flüchtlinge und deren Unterstützer«. Das Bundesinnenministerium dazu: »Insbesondere die Agitation gegen Politiker im Zusammenhang mit ihrem Verhalten in der Flüchtlingsthematik« dürfte »an Bedeutung gewinnen.«

Das erlebt nicht nur König schon längst. Nach einem neuerlichen Anschlag auf ihr Büro in Saalfeld verwies sie auf die »Zunahme von neonazistischen Vorfällen in der Region«. Es vergehe »nicht ein Tag, an dem es nicht zu Übergriffen, Bedrohungen oder rassistischen Schmierereien« kommt. Eine gewaltbereite Neonazi-Szene exekutiert dabei, was von anderen rhetorisch seit Monaten immer offensiver mit vorbereitet wird. Auf den rechten Pegida-Aufmärschen sind Parolen gegen die »Systemparteien« genauso üblich wie in der Stimmungsmache der rechten AfD.

Mancher hat deshalb von einer »zunehmenden Verrohung« der politischen Kultur gesprochen. Doch so richtig es ist, dass auch für Büros von Union und AfD Daten über Attacken vorliegen, so unterschlägt dieser allgemeine Begriff doch das Spezifische an der antidemokratischen Gewalt: Diese richtet sich in einem weit überwiegenden Maße gegen Parteien, die von den Tätern der Linken zugerechnet werden – und sie lässt sich befeuern von einer allgegenwärtigen Stimmung, in der Geflüchtete zum Problem erklärt und die Unterstützer von Asylsuchenden im Nazijargon als »Volksverräter« diffamiert werden.

Diese Stimmungsmache gegen die »Systemparteien« hat bei Pegida, AfD und Co. einen Resonanzboden gefunden; die Attentäter fühlen sich als »Vollstrecker« eines dort geäußerten Willens. Die Angreifer auf Parteibüros wollen materiell schädigen und auf sich aufmerksam machen – vor allem aber eines: einschüchtern. tos

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