Großes Kino: erster Kuss

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn es vorkommt, dass ich mich auf einem kleinen furchtbaren Konzert betrinke, höre ich eher früher als später jemanden aus dem Publikum dem Alpha-Männchen auf der Bühne zurufen: »Ausziehen!« Dafür war ich schon, als ich noch selber an- und ausgezogen wurde. Sex mit Kindern fand ich große Klasse, als ich noch nicht aus diesem Alter raus war.

Sigmund Freud hat darüber viele Bücher geschrieben. Leider habe ich kein einziges gelesen, sondern nur einiges erlebt. Schlecht waren Vierjährige hinter dem Wandklappbett. Besser waren Sechsjährige im Colosseum. Wir hatten Kinotag und sahen »Ernst Thälmann - Führer seiner Klasse.« Sie küsste mit geschlossenem Mund, kurz und trocken, und ich wusste es auch nicht besser. Thälmann wurde ermordet, und wir mussten uns auseinandersetzen. Dann wurde das Colosseum für einige Jahre geschlossen.

100 Monate später, auf einem Campinggelände bei Berlin, wussten zwei Schwestern nicht, wo sie ihr Zelt aufschlagen durften. Ich zeigte es ihnen unter der Bedingung, mir ein Nachtlager zu gewähren. Wir tranken aus und schliefen ein. Im Halbschlaf hörte ich eine von beiden flüstern: »Lass uns zum See gehen. Ich weiß, wie man sich gegenseitig die Zunge in den Hals hängt.« Schlaftrunken drohte ich zu ersticken. Am darauffolgenden Morgen wusste ich nicht einmal, wessen Mundgeruch das war. Ingo sagte: »Is se schwanger? Dann lass uns abhauen!«

Wochen später fuhr mich ein alter Mann durch Mitte. Er zeigte auf Clärchens Ballhaus und sprach: »Zieh dir deine Jugendweihehose an, und stoß dir dort die Hörner ab!« Wir hatten nicht denselben Rhythmus, das junge Ding und ich. Sie investierte ihr Geld in Tanzstunden. Ich nicht. Ihre letzte Bemerkung lautete: »Du tanzt so, als ob du vorm Radfahrer zur Seite springst!« Der Abend schien gelaufen zu sein. Doch Minuten später stand eine andere vor mir. Sie war aufs Tanzen weniger versessen. Als es in ihrer Wohnung zur Sache ging, jubilierte ich dabei. Das irritierte sie, weshalb ich ihr entschuldigend erklärte: »Ja, vom Onaniern kannt ick mich ooch nich so.« Zu Hause betrat ich lächelnd die Wohnung und sagte: »Vater.« Er antwortete: »Mein Sohn.«

So zogen die Jahre ins Land. Ich hatte wenig Glück bei Frauen, denn die meisten hatten kein Geld. Der fleißige Ingo hatte genügend Geld. Er lud mich in ein Kino ein. Der Film kostete zehn Mark und die Platzanweiserin 50.

Neulich sagte ich mir: »Ach, ick jeh mal wieder ins Colosseum.« Auf dem Bürgersteig lag noch Baumaterial, um das Licht der Leuchtreklame zu löschen. Die Filmplakate warben weder für Thälmann noch für Platzanweiserinnen. Ich glaube, es war gar kein Kino.

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