Die Kirche schreibt das SED-Programm

Der IX. Parteitag, die Religionsfreiheit und die Sozialpolitik: Teil IV der nd-Serie über das Jahr 1976 in der DDR

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Das gab es in der DDR noch nie: Die evangelische Kirche brachte 1976 allen Ernstes einen Einspruch gegen das Parteiprogramm der SED ein - und setzte sich damit sogar durch.

Am 14. Januar hatte das «Neue Deutschland» seinen Lesern den Entwurf zum neuen SED-Programm vorgestellt, das im Mai auf dem IX. Parteitag beschlossen werden sollte - das dritte (und was damals niemand ahnte: bis zum Herbst ’89 zugleich das letzte) Programm in der Geschichte der Einheitspartei.

Mit dem Abdruck, so die Zeitung, beginne die große öffentliche Aussprache, die dazu beitragen werde, «die Kampfkraft unserer Partei zu verstärken, ihre Verbindung zu den Massen weiter zu festigen und in schöpferischer Diskussion vielfältige neue Initiativen der Werktätigen für unser kraftvolles Voranschreiten hervorzubringen».

Zwei Tage später erklärte die Zeitung noch einmal genau, worum es gehen sollte: «Es ist eine Aussprache über Parteidokumente zwischen den Genossen unserer Partei, und zugleich ist es eine Volksaussprache, ein Zwiegespräch der Partei mit dem ganzen Volk der DDR. Das wird ein zutiefst demokratischer Vorgang sein, bei dem alle Schichten der Bevölkerung, alle Bürger unseres sozialistischen Staates zu Worte kommen sollen.»

In der ND-Redaktion rechnete man vermutlich mit den üblichen - angeforderten - Grußadressen ausgewählter Betriebsparteigruppen, bekannter Künstler etc. Dass hier nicht wirklich diskutiert werden sollte, steht außer Frage.

Umso bemerkenswerter, dass ausgerechnet die Kirche das Angebot annahm: Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, KKL, erarbeitete eine Stellungnahme. In einem persönlichen Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, bat daraufhin Bischof Albrecht Schönherr am 26. März 1976, die Meinungsäußerung der KKL an «zuständiger Stelle» zur Geltung zu bringen.

Was auch tatsächlich geschah - mit dem Ergebnis, dass ein im Vergleich zum vorherigen Programm verloren gegangener Passus zur Religions- und Gewissensfreiheit wie auch zur Gleichheit aller DDR-Bürger unabhängig von Weltanschauung wiederaufgenommen wurde. Ein in der Kirchengeschichte einmaliger Vorgang! Die evangelische Kirche der DDR hatte allen Ernstes einen Einspruch gegen das Parteiprogramm der SED einbringen können.

Wie sich der Historiker Horst Dohle erinnert, damals Bürochef des Staatssekretärs für Kirchenfragen, war damit der Versuch des Politbüros gescheitert, bisher gültige und zitierfähige Äußerungen zu beseitigen. Allerdings blieb das programmatische Defizit der Partei in ihrem Verhältnis zu den Kirchen bestehen. «Es bestand darin», so Dohle, «dass im Gesellschaftskonzept der SED die Kirche nicht vorgesehen war, dass aber in der Wirklichkeit die Kirchen vorhanden und wahrnehmbar waren.» Und auch wenn die Mitgliederzahl in den Jahrzehnten der DDR auf ein Viertel schrumpfte, so nahm doch der gesellschaftliche Einfluss der evangelischen Kirche in den 1970er Jahren wieder zu.

Die Partei im Palazzo

Noch im Frühjahr ’76 konnte die DDR ihr gefestigtes Selbstbewusstsein auch architektonisch unter Beweis stellen: Am 23. April wurde der Palast der Republik eröffnet, der von den Berlinern sofort als «Palazzo Prozzo» apostrophiert, aber zugleich als Volkshaus angenommen wurde.

Im Großen Saal, wo schon bald die beliebte Fernsehsendung «Ein Kessel Buntes» regelmäßig aufgezeichnet werden sollte, tagte vom 18. bis zum 22. Mai 1976 der IX. Parteitag der SED. Und wie das ND am ersten Tag zu berichten wusste, wollte das Fernsehen der DDR in einer «Farbsendung» (!) ab 9.55 Uhr die Eröffnung und Konstituierung des IX. Parteitages wiedergeben!« Und wie immer bei SED-Parteitagen, legten die Fernsehberichte den Eindruck nahe, dass beinahe alle Delegierte hochkonzentriert jedes Wort mitschrieben, obwohl die Redebeiträge doch am nächsten Tag im ND abgedruckt sein würden. Eben dort waren Tags zuvor noch materielle Erwartungen geschürt worden. Auf seiner dritten Seite hatte das Zentralorgan diverse Anträge an den Parteitag veröffentlicht, etwa zur schrittweisen Einführung der 40-Stunden-Woche, zur Erhöhung der Mindestrente (damals noch 230 Mark im Monat) und der Mindestlöhne.

Von alldem wurde aber auf dem IX. Parteitag nichts beschlossen. Der Historiker Hermann Weber, meint dazu, offenbar habe die Führung zu diesem Zeitpunkt noch gedacht, den Bürgern weitere Belastungen zumuten zu können.

Wie erwartet, bestätigten die Delegierten ausdrücklich die Politik der Hauptaufgabe, die Honecker mit dem VIII. Parteitag 1971 eingeleitete hatte. Neu war allerdings der Begriff dafür: die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Neu war auch die außenpolitische Positionierung der SED, wie sie im Programm jetzt festgeschrieben wurde: »Die allseitige Festigung der sozialistischen Staatengemeinschaft, die eng um die Sowjetunion zusammengeschlossen ist, nimmt in den außenpolitischen Zielsetzungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands den Vorrang ein.« Damit demonstrierte die SED vorbehaltlos ihre Gefolgschaft gegenüber dem Führungsanspruch der KPdSU. War unter Ulbricht im 1963er Programm noch die Rede von den Prinzipien der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung, der Unabhängigkeit und Souveränität der sozialistischen Länder, war der DDR-Staat nun vor allem als fester Bestandteil im sowjetischen Machtgefüge verortet. Gleichzeitig manifestierte das neue Programm aber auch die veränderte Haltung der Parteiführung zur nationalen Frage. Die Partei leite »planmäßig« den Prozess der weiteren Entwicklung der sozialistischen Nation, »durch alle gesellschaftlichen Prozesse bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft«. - Wenn es nun aber keine deutsche Nation mehr geben sollte, musste das auch Auswirkungen auf das Verhältnis zum westdeutschen Nachbarstaat mit sich bringen. Die SED wollte fortan dafür eintreten, dass die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD »als Beziehungen zwischen souveränen Staaten (…) entwickelt werden«.

Im internationalen Licht betrachtet, schien es für die SED seinerzeit sehr gut zu laufen. Waren noch unter Ulbricht 1963 auf dem Programmparteitag Gäste von 70 kommunistischen Parteien begrüßt worden, darunter die von Chruschtschow angeführte KPdSU-Delegation, waren es zum IX. Parteitag immerhin 103 Delegationen aus 92 Ländern. Die DDR und mit ihr die SED hatten im Ausland sichtbar an Bedeutung gewonnen. Wer aber genau hinsah und -hörte, dem entging nicht, dass die viel beschworene Einheit der kommunistischen Bewegung in aller Welt nicht zuletzt ein Wunsch der Gastgeber war. Denn vom »proletarischen Internationalismus« (dem alten Euphemismus für den Führungsanspruch des Kremls) sprachen längst nicht mehr alle Parteitagsgäste. Die Vertreter der jugoslawischen und rumänischen Kommunisten plädierten in deutlichen Worten für die Selbstständigkeit ihrer Parteien. Und der Vertreter der KP Italiens betonte gar »die Werte der Freiheit und der sich daraus ergebenden Rechte«, er beschwor ein »pluralistisches und demokratisches System«. - Ein Gespenst ging um in Europa, unter einem Namen, den seinerzeit ein jugoslawischer Journalist kreiert hatte: der »Eurokommunismus«, der aber so gar nichts mit dem jugoslawischen Modell unter Tito gemein hatte und erst recht nicht mit den Verhältnissen in der DDR.

Mit der Diktatur der Arbeiterklasse war es auch im Jahr 1976 eine Farce. Der IX. Parteitag der SED, einer angeblichen Arbeiterpartei, hatte unter den insgesamt 202 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees nur einen einzigen Arbeiter gewählt resp. eine Arbeiterin: Irene Tamme, Schichtarbeiterin und Meisterin im VEB Spindel- und Spinnflügelfabrik Neudorf.

Und von den neunzehn gewählten Mitgliedern des Politbüros - allesamt Männer - waren zwölf ihrer sozialen Herkunft nach alles andere, nur keine Arbeiter. Jedenfalls nicht im Sinne eines Industrieproletariats, dem Marx und Engels noch die »historische Mission« bei der Überwindung des Kapitalismus zugeschrieben hatten.

Allen voran Erich Honecker, der sich auf dem IX. Parteitag den Titel eines Generalsekretärs verliehen hatte und für das Dachdeckerhandwerk nicht mal einen Gesellenbrief vorweisen konnte. Hermann Axen war gelernter Pelzhändler; Friedrich Ebert, Sohn des Reichspräsidenten, kam aus dem Buchdruckerhandwerk. Werner Felfe hatte einen Abschluss als Industriekaufmann und Gerhard Grüneberg war gelernter Maurer, also Handwerker. Kurt Hager, wie der »Spiegel« bei seinem Tod 1998 schrieb, »der letzte Intellektuelle im Politbüro«, hatte vor seiner Karriere im Parteiapparat als Journalist gearbeitet. Und selbst Erich Mielke war kein richtiger Arbeiter, er hatte eine Lehre als Speditionskaufmann abgeschlossen. Wirtschaftslenker Günter Mittag war gelernter Eisenbahner. Alfred Neumann und Albert Norden waren Tischler, also ebenfalls Handwerker. Und Horst Sindermann, damals noch DDR-Ministerpräsident, hatte nun gar keine Berufsausbildung. Selbst der damalige Staatsratsvorsitzende Willi Stoph, nach den »Volkswahlen« im Herbst 1976 Ministerpräsident der DDR, entstammte nicht dem Industrieproletariat, er war Maurer.

Herrschte im SED-Staat statt der Diktatur des Proletariats in Wahrheit also eine Diktatur der Handwerker? Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: Horst Dohlus, damals nicht stimmberechtigter Kandidat des Politbüros, war Friseur. Joachim Herrmann, 1976 ebenfalls Kandidat des Politbüros, war sein Leben lang Parteiarbeiter, aber kein Malocher. Wie Sindermann hatte Herrmann keinen Beruf gelernt. Immerhin aber reichte es zum Chefredakteur des »Neuen Deutschland«. Die Geschicke des Landes bestimmte eine Gruppe ehemaliger Handwerker und Kaufleute, die irgendwann in ihrem Leben mal eine Parteischule besucht hatten - allesamt Bürokraten. Warum auch nicht? Der Staat wurde ja auch von einem sich selbst so nennenden »Politbüro« und den dortigen »Sekretären« regiert.

Nachtrag

Der materielle Lebensstandard der DDR-Bevölkerung sollte dennoch per Gesetz gehoben werden, allerdings nach dem Parteitag. Wie der Historiker Hermann Weber vermutet, als Reaktion auf eine gewisse Enttäuschung in der Bevölkerung. In seiner Wochenendausgabe vom 29./30 Mai 1976 wartete das »Neue Deutschland« mit einer überraschenden Titelseite auf.

Unter der Überschrift »Gemeinsamer Beschluss« war eine Erklärung abgedruckt. »Vertrauend auf die Kraft, den Tatendrang und neue Initiativen der Arbeiterklasse, der Genossenschaftsbauern, der Angehörigen der Intelligenz und aller anderen Werktätigen« beschlossen das Zentralkomitee der SED, der Bundesvorstand des FDGB und der Ministerrat der DDR für die Jahre 1976 bis 1980 eine Reihe sozialer Maßnahmen.

Zum 1. Oktober 1976 sollten der Brutto-Mindestlöhne angehoben werden, von 350 Mark auf nunmehr 400 Mark. Das bedeutete eine Lohnerhöhung für immerhin eine Millionen Arbeiter und Angestellte. Ebenso erhöht wurden die Mindestrenten von monatlich 200 auf 230 Mark. »Diese überfälligen Maßnahmen«, so Hermann Weber, »enthüllten allerdings auch, wie niedrig der Lebensstandard breiter Kreise in der DDR war.« Trotz niedriger Mieten und stabiler Preise für Grundnahrungsmittel, lebte ein großer Teil der Bevölkerung immer noch in recht ärmlichen Verhältnissen.

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