»Wir kommen in friedlicher Absicht«

Ein Pfarrer bekommt Besuch vom MfS - und protokollierte. Ein Auszug. Teil V der nd-Serie über die DDR 1976

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 10 Min.
Im Jahr 1976 erhielt Lothar Vosberg Besuch vom MfS. Doch nicht das Ministerium protokollierte wie üblich, sondern der Pfarrer selbst.

In seinem Buch »Krieg ohne Schlacht« schrieb Heiner Müllers Anfang der Neunzigerjahre, er habe von einigen Leuten gehört, die zu Verhören in Stasi-Büros waren, »dass da schon früh Gorbatschow-Porträts hingen«. Es habe deutliche Signale gegeben, dass die Diskrepanz zwischen dem Wissensstand der führenden Funktionäre und der Staatssicherheit zunahm. Die Intelligenz sei bei der Staatssicherheit, die Blindheit bei der Parteiführung gewesen. »Und natürlich hatte die Staatssicherheit nicht erst seit Gorbatschow bessere Kontakte zu den Russen.«

Dass es im Jahr 1976 zumindest im kirchlichen Raum eine Sensibilisierung und ein Unrechtsbewusstsein gegenüber der Staatssicherheit gegeben hat, davon berichtet das im Folgenden vorgestellte Gedächtnisprotokoll eines Pfarrers.

Karsten Krampitz

Es hätte ein erfolgreiches Jahr werden können: 1976 wurde der Palast der Republik eröffnet. Bei den Olympischen Sommerspielen errang die DDR vierzig Goldmedaillen; den zweiten Platz in der Länderliste konnten auch die »Bonner Ultras« nicht streitig machen. Die angeblich zehntstärkste Industrienation der Welt erschien als Staat gewordener Fortschritt. Und warum sollte man dagegen opponieren, gegen Naturgesetze ankämpfen?

Bei den Wahlen zur Volkskammer stimmten am 17. Oktober 99,86 Prozent für die Einheitsliste. Erich Honecker löste Willi Stoph im Amt des Staatsratsvorsitzenden ab. Unter Führung der Arbeiterklasse sollte das Aufbauwerk der entwickelten sozialistischen Gesellschaft planmäßig voranschreiten. Und doch war 1976 eine Zäsur in der Geschichte der DDR. Ein geistiger Erosionsprozess nahm seinen Anfang, der schließlich im Herbst ’89 den SED-Machtapparat einstürzen ließ.

»neues deutschland« zeichnet die Wendepunkte dieses Jahres in einer großen Serie nach. Karsten Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Er hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften studiert und über »Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976« promoviert. Krampitz initiierte gemeinsam mit Peter Wawerzinek die Trinkerklappe in Wewelsfleth/Schleswig-Holstein, gründete eine Bettelakademie und besetzte mit Obdachlosen und Junkies Berliner Nobelhotels. 2004 erhielt Krampitz das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin. In Klagenfurt wurde er 2009 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, im folgenden Jahr war er Klagenfurter Stadtschreiber. Er arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Publizist. Im kommenden Jahr erscheint im Verbrecher Verlag sein Buch: »1976: die DDR in der Krise«. nd

Nächste Woche: Sport und Nation – Die DDR bei den Olympischen Spielen in Montreal

Der damals 35-jährige Lothar Vosberg aus dem zur Kirchenprovinz Sachsen gehörenden Kirchenkreis Sömmerda hatte am 29. Juni 1976 Besuch vom »SSD« bekommen und seinen kirchlichen Vorgesetzten davon berichtet. Zur Person: Lothar Vosberg hatte seinerzeit in der Kirchengemeinde St. Bonifacii in Sömmerda die dritte Pfarrstelle inne und war zudem für die Gemeinde Frohndorf verantwortlich, wo er auch wohnte. (Mittlerweile wurde Frohndorf in die Kreisstadt Sömmerda eingegliedert.)

Sein Bericht wird vermutlich nicht zu hundert Prozent dem genauen Wortlaut des Gespräches entsprechen, immerhin handelt es sich um keinen Mitschnitt, sondern um eine nachträgliche Niederschrift aus dem Gedächtnis. - Eine zumindest kleine Gedächtnisschwäche des Pfarrers wird deutlich an dem von ihm verwendeten Kürzel für die Stasi. Ein hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter hätte vermutlich nicht wortwörtlich den Satz gesagt: »Der SSD ist nicht nur ein Organ zur Exekutive.« Bei der Stasi wusste man freilich auch, dass SSD wie SS klingt.

Von seinem Inhalt her aber scheint das Gespräch sehr glaubwürdig wiedergegeben. Lothar Vosberg schrieb aus einer inneren Notsituation heraus, nicht um sich wichtig zu machen. Folglich hatte er keinen Grund, den Vorfall in irgendeiner Weise auszuschmücken oder übertrieben darzustellen. Sein Gedächtnisprotokoll stellt für den Historiker ein authentisches Zeugnis dar über die Staat-Kirche-Beziehung auf unterster Ebene, aber auch vom Alltag der Menschen in der DDR des Jahres 1976. Denn tatsächlich sprach Pfarrer Vosberg mit den Stasi-Leuten nicht nur über die Kirche.

Besonders interessant an diesem Dokument (zu dem sich leider in den MfS-Akten nicht das entsprechende Pendant gefunden hat): Das Opfer einer Stasi-Überwachung erkundigt sich bei einem Mitarbeiter des MfS nach seiner Akte. Wohlgemerkt: im Jahr 1976!

Bericht über das Gespräch zweier Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit am 29. 6. 1976 in meinem Amtszimmer (Frohnsdorf) von 13 Uhr bis 13.45

Der eine der Mitarbeiter kam von der Bezirksdienststelle (er stellte sich mit Namen vor; den Namen habe ich nicht richtig verstanden und dann wieder vergessen), der andere Mitarbeiter kam von der Kreisdienststelle Sömmerda. Wortführer war der Mitarbeiter aus Erfurt. Der Mitarbeiter aus Sömmerda sprach fast gar nicht. Nachdem wir uns gesetzt hatten, wartete ich auf den Beginn des Gesprächs.

SSD: Wir kommen zu einem persönlichen Gespräch, um Sie kennenzulernen. IX. Parteitag, nun Verwirklichung der Beschlüsse (sic!) und wie ist Ihr Verhältnis zu den staatlichen Stellen?

Ich: Staatliche Stelle für mich als Gemeindepfarrer ist der Bürgermeister.

SSD: Und Nationale Front?

Ich: Ich weiß nicht, ob es die im Dorf gibt.

SSD: Gibt es eine CDU-Ortsgruppe?

Ich: Im Dorf gibt es ein CDU-Mitglied. Der junge Mann leitet die Verkehrsteilnehmerschulung.

SSD: Und daran nehmen Sie teil?

Ich: Ja.

SSD: Wir kommen in friedlicher Absicht. Der Besuch bei Ihnen ist seit einem Jahr geplant.

Ich: Wenn Sie zu mir kommen, dann haben Sie doch ein Anliegen. Ihr Besuch ist doch nur die Spitze des Eisberges. Da steckt doch mehr dahinter.

SSD: Nein. Wir wollen Sie persönlich kennenlernen. Seien Sie doch nicht so misstrauisch.

Ich: Mit dem SSD habe ich seit Kindesbeinen meine Erfahrungen. Was Gestapo und SSD ist, das ist mir nicht ganz unbekannt.

SSD: Gestapo und SSD - da ist ein großer Unterschied. Wieso von Kindesbeinen an?

Ich: Mein Vater gehörte zur Bekennenden Kirche - da kam die Gestapo. Und nach 45 kam manchmal der SSD.

SSD: Warum? Wo war Ihr Vater?

Ich: Zuletzt in Freyburg. Sein Vorgänger war bei den DC (die »Deutschen Christen« waren eine klerikalfaschistische Kirchenbewegung - Anm. K.K.), und da lagen in irgendeinem Winkel des Hauses noch DC-Schriften, von denen mein Vater nicht wusste und da hat einmal unverhofft der SSD Haussuchung (sic!) gemacht. Das war eine böse Geschichte. Und wenn Sie sagen, Sie kommen in friedlicher Absicht, vermute ich hinter Ihrem Besuch noch ein weites Feld.

SSD: Das brauchen Sie nicht. Der Besuch ist seit einem Jahr geplant. Wir wollen mit Ihnen Kontakt aufnehmen.

Ich: Wenn staatliche Stellen mit mir Kontakt aufnehmen wollten, dann war das entweder vom Rat des Kreises oder von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kreise. Aber Kontaktaufnahme vom SSD ist mir ungewohnt. Und ›Kontakt‹ heißt ja, dass sich da eine Kette anschließt.

SSD: Nein. So dürfen Sie unseren Besuch nicht verstehen.

Ich: Mein Beruf ist es, mit Wörtern umzugehen, Sätze zu verstehen, zu interpretieren und wenn ich Kontakt höre, dann höre ich noch eine Menge mit.

SSD: Man darf die Interpretation eines Wortes nicht auf die Spitze treiben.

Ich: Manchmal ist das nützlich, weil man dann klarer sehen kann.

SSD: Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Rat des Kreises?

Ich: Eigentlich müsste ich jetzt meine Frau holen. Sie sind zu zweit und ich bin allein.

SSD: Ist das denn nötig? Wir kommen in friedlicher Absicht zu Ihnen.

Ich: Sie wissen, dass ich von diesem Gespräch auf dem Dienstweg berichten werde. Vorschrift.

(Es folgt eine Passage, in der es um Druckfahnen eines im Westen erschienen Buches geht, von denen Vosberg annimmt, dass sie auf dem Postweg verschwanden - durch das MfS.)

SSD: Was wollen Sie denn jetzt machen, keine Sorgen, kein Bauobjekt?

Ich: Ich werde Pfarrer.

SSD: Wir wissen, dass Sie der kommende Mann sind, ein moderner, kritischer Theologe, in Thüringen würde man sagen, dass Sie ein junger, zorniger Mann sind.

Ich: Ob ich der kommende Mann bin, weiß ich nicht. Außerdem: In der Kirche macht man nicht Karriere. Da wird man zu Aufgaben berufen.

SSD: Und haben Sie Erfolg bei Ihrer Aufgabe im Neubaugebiet?

Ich: Größere Wohnungen müssten gebaut werden, dann gäb es weniger Scheidungen.

SSD: (Der vom Bezirk an den Mitarbeiter vom Kreis) Wird denn in der Neuen Zeit (Neubauviertel in Sömmerda - Anm. K.K.) wirklich so viel geschieden? (Kreis: Ja, etwas sehr viel.) Wie meinen Sie das mit den größeren Wohnungen?

Ich: Die Wohnungen sind zu eng. Da steigt die Aggressivität der Leute. Ein Zimmer mehr. Viele machen ein Abendstudium. Wenn der Fernseher geht, ein Fußballspiel, und der andere muss lernen - da gibt es Krach und eine Lappalie ist Scheidungsgrund.

SSD: Meinen Sie etwa, das liegt an der Leistungsgesellschaft?

Ich: Wir müssen mit der Leistungsgesellschaft leben. Aber diese Gesellschaft könnte sich größere Wohnungen leisten. Die Menschen wären vielleicht glücklicher.

SSD: Bei den alten Neubaublöcken waren die Wohnungen noch nicht so gut wie jetzt. Und es gibt sehr viel junge Leute, die Wohnung suchen. Der Wohnraum ist ein Problem. Es gibt ja auch keinen Gemeinderaum in der Neuen Zeit.

Ich: Sie wissen ja auch warum. Ein großer Teil der Neuen Zeit steht auf ehemaligem Kirchenboden. Wir haben nicht nur einmal versucht, die Genehmigung zum Bau zu bekommen. Das wissen Sie. Aber da wurde immer nur abgelehnt. Und Sie wissen auch, dass viele Pfarrhäuser und Kirchen in einem schlimmen Zustand sind. Das liegt nicht an uns. Wenn ein Pfarrhaus nicht mehr beziehbar ist, fehlt der Pfarrer im Ort - das kann auch ein Gewinn sein. Den Gemeinderaum im Neubau hätten wir schon gebaut. Aber ohne Baukapazität und Genehmigung geht es eben nicht. Und die Pfarrhäuser brauchen wir für die »Pfarrer, die in Rente gehen«.

SSD: Ein »Ruheständler« zieht doch nicht aus der Stadt aufs Dorf. Haben Sie mit dem Rat des Kreises Schwierigkeiten?

Ich: Auf dem Kreisbauamt gibt es nette Leute.

SSD: Wie kommen Sie denn mit Ihrem Bürgermeister aus?

Ich: Ich bin sechs Jahre hier, habe sechs Jahre gebaut. Ohne Bürgermeister kann man nicht bauen. Was ich von ihm brauchte, bekam ich von ihm. - Aber was ist eigentlich Ihr Anliegen? Warum sind Sie zu mir gekommen?

SSD: Wir wollen Sie persönlich kennenlernen, denn Sie sind der kommende Mann im »Großkreis«.

Ich: Sie kennen mich doch. Sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Freilich Sie (zum Mitarbeiter vom Bezirk) kenne ich noch nicht. Vom Sehen her kenne ich aber Sie (Mitarbeiter vom Kreis). (Erstaunen) Nun, ich habe ein gutes Personengedächtnis und Gesichter präge ich mir ein.

Aber welche Frage soll Ihr heutiger Besuch haben?

SSD: Der SSD ist nicht nur ein Organ zur Exekutive, sondern auch zur Vorbeugung. In friedlicher Absicht sind wir gekommen, um Sie kennenzulernen. Wir wollen uns mit Ihnen mal unterhalten.

Ich: Sie sagten »vorbeugen«. Was wollen Sie bei mir vorbeugen?

SSD: Sie verstehen uns falsch. Vorbeugen im weitesten Sinne. Wir sind für die Sicherheit im Innern und nach außen hin da.

Ich: Das versteh ich. Sie überwachen z.B. den Generaldirektor vom Kombinat Zentronik, Sömmerda, damit ihm nichts passiert.

SSD: Nicht nur Personen, sondern auch z.B. geheime Verschlusssachen. - Der Besuch ist bei Ihnen seit einem Jahr geplant, ganz rein persönlich.

Ich: Wenn der Besuch seit einem Jahr geplant ist, dann haben Sie sich auf diesen Besuch auch vorbereitet, haben sich meine Akte kommen lassen.

SSD: Da gibt es keine Akte über Sie, wir führen doch keine Akten über Personen. Wie Sie sich das vorstellen. Ich hatte heute in Sömmerda zu tun. Und da habe ich zu dem Kollegen von der Kreisdienststelle gesagt: Fahren wir doch mal zum Pfarrer Vosberg.

Ich: Dann haben Sie sich eben in Sömmerda die Akte angeschaut.

SSD: Die gibt es gar nicht.

Ich: Dann eben die Karteikarte. Sie haben sich doch auf den Besuch bei mir vorbereitet. Ich habe doch gemerkt, dass Sie einiges über mich wissen.

SSD: Was halten Sie von Ihrem Bürgermeister?

Ich: Der eine ist stark und der andere ist krank, der eine arbeitet in der Stille und der andere organisiert viel. Jeder tut, was in seinen Kräften steht.

(Es folgt eine Passage, in der es um die Neuordnung der Kreise geht. Anm. d. Red.)

SSD: Haben Sie irgendwelche Sorgen mit dem Bauen, in Ihrer Arbeit, mit dem Rat des Kreises?

Ich: Ich habe keine Sorgen, ich bin wunschlos glücklich.

SSD: Sie sind der kommende Mann und wenn man oben ist, dann hat man doch einen besseren Überblick.

Ich: Unten hat man einen großen Überblick. Sie wissen ja, Informationen gibt man von unten nach oben. Oben werden sie gebündelt. Ich habe Überblick genug hier unten und sehne mich nicht nach oben.

SSD: Aber das mit dem Überblick stimmt nicht ganz.

Ich: Sie wissen: Information ist Macht.

SSD: Wissen ist Macht.

Ich: Information ist Wissen. Durch das, was ich an Informationen weitergebe, kann ich einwirken auf die, die über mich Macht gewinnen wollen. Und warum wollten Sie mich in friedlicher Absicht persönlich kennenlernen?

SSD: Sie sehen unseren Besuch in einem falschen Licht. Wir sind doch nicht zum Verhör gekommen. Zu einem Verhör lassen wir die Leute in die Dienststelle kommen.

Ich: Ach wissen Sie, ich habe Freunde, habe von anderen Pfarrern gehört, dass da Mitarbeiter des SSD ins Amtszimmer kamen und nicht zum persönlichen Kennenlernen.

SSD: Ich sag es noch einmal: In friedlicher Absicht sind wir gekommen, wir wollten Sie kennenlernen. Das haben wir nun getan und wollen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.

Lothar Vosberg. (Unterschrift)

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