Heute sehen wir ins Konzert

Klassische Orchestermusik erfolgreich im Internet vermarkten? Den Berliner Philharmonikern gelingt das

  • Elke Koepping
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie gelten als eines der besten Orchester der Welt - mancherorts werden sie wie Popstars gefeiert. Regisseur Thomas Grube hat das in seinem Film »Trip to Asia« festgehalten. Im Jahr 2005 begleitete er die Berliner Philharmoniker auf einer Konzerttournee durch mehrere Großstädte Asiens. Das Konzert in Taipeh wurde über Leinwände live auf den Platz vor dem Konzertsaal übertragen, rund 30 000 Menschen kamen, um das Orchester spielen zu sehen.

»Das war für die Musikerinnen und Musiker ein ganz starkes Erlebnis, dass man ihnen auf diese Weise begegnet ist.« Tobias Möller ist der Marketingchef der Berlin Phil Media GmbH, der Firma, die sich um die Vermarktung des Orchesters in Bild und Ton kümmert. Er erzählt vom Gründungsmythos der Digital Concert Hall, von der Zeit, als die erste Idee von einer Online-Plattform Gestalt annahm, auf der Inhalte der Berliner Philharmoniker zu finden sein sollten.

Seit mehr als 130 Jahren verwaltet und organisiert sich das Orchester erfolgreich selbst - was nicht nur bedeutet, dass die Musikerinnen und Musiker neben ihrer künstlerischen Arbeit auch Vorstandsposten und Chefsessel besetzen, sondern dass sie selbst ein großes Interesse daran haben, wie sie vermarktet werden.

»Gerade weil diese Musikerinnen und Musiker so stark ins Mediengeschäft involviert sind, haben sie damals mitbekommen, wie sich die Musikbranche verändert«, sagt Tobias Möller. Und auch, »dass die Sendeplätze für klassische Musik im Fernsehen immer weniger und große Labels zurückhaltender werden, was die Veröffentlichung von Orchesterrepertoire auf CD angeht.« Der Stand der Technik eröffnete die Option, sich im Internet ganz neue Publikumskreise zu erschließen - und zwar direkt, ohne Plattenfirmen und Fernsehgesellschaften als Mittler.

Technische Vorbilder gab es bei der Entwicklung der Digital Concert Hall im Jahr 2008 keine, »nicht einmal außerhalb der klassischen Musikwelt«, erinnert sich Möller. »Wir mussten sehr unserem eigenen Gefühl folgen.« Heute, sieben Jahre nach dem Start, zeigt sie wöchentliche Live-Übertragungen von Konzerten, rund 40 pro Saison. Durch den Erwerb von lizenzierten Fernsehaufzeichnungen mit Konzerten unter der Leitung von Herbert von Karajan oder Claudio Abbado wurde auch ein umfangreiches Archiv aufgebaut. Da tut sich ein digitales Füllhorn auf, das es ermöglicht, Veränderungen der Spielkultur im Verlauf von Jahrzehnten an einem einzigen Orchester zu beobachten. Daneben gibt es Interviews zu sehen und Filme wie den eingangs erwähnten »Trip to Asia«.

Der Zugang zum Portal ist über Einzeltickets oder Abonnements möglich, auch hier hat das Modell der Philharmoniker Vorbildcharakter. Mit rund 22 000 zahlenden Nutzerinnen und Nutzern haben sie ein funktionierendes Bezahlmodell für Online-Inhalte etabliert - bis heute gibt es keine vergleichbaren Angebote im Netz. Das liegt zum einen daran, dass ein Orchester einen so hohen Bekanntheitsgrad wie die Berliner Philharmoniker braucht, um im Internet erfolgreich zu sein, und zum anderen auch an der Finanzierungsstruktur. Von langjährigen Sponsoren können Orchester in anderen Teilen der Erde nur träumen. Allein über die kontinuierlichen Zuschüsse ist es möglich, die hohe Qualität zu gewährleisten.

Sieben ferngesteuerte HD-Kameras sind im Saal installiert. Sie ermöglichen sehr intime Einblicke in Mimik und Spielweise der Musikerinnen und Musiker. So nah heran kommt das Publikum einer herkömmlichen Konzertaufführung gewöhnlich nicht. Das hat Vor- und Nachteile: Die Kameras erlauben neue Perspektiven auf einzelne Musikerinnen oder Musiker, die Virtuosität und die harte Arbeit jedes Einzelnen an der Aufführung wird so ganz anders erfahrbar. Das Internet-Publikum ist via Kamera näher dran. Andererseits wird auch jede Abweichung, jeder winzige Patzer registriert und im Internet sofort weltweit live verbreitet.

»Der Druck ist natürlich höher«, sagt Hornistin Sarah Willis, die von Beginn an eine starke Befürworterin der Digital Concert Hall war, »einmal in der Woche sind wir online. Ob man live im Konzertsaal einen Ton verpasst oder live im Internet, das macht keinen Unterschied. Aber es hören viel mehr Leute zu.« Das macht für die Zuhörenden den Reiz aus, denn die Abweichung von der Perfektion ist der Moment, der eine Live-Aufzeichnung im Vergleich zu einer CD-Einspielung um so vieles interessanter macht. Gerade weil es Menschen sind, die diese Musik live produzieren, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit und ihren Emotionen auf der Bühne präsent sind. Das scheint auch das Publikum im Internet zu schätzen.

Natürlich soll die digitale Aufzeichnung nicht das Live-Event ersetzen. Tobias Möller von der Berlin Phil Media stellt noch einmal klar, dass die Berliner Philharmoniker ein Live-Orchester sind und bleiben. »Für uns ist es aber eine sehr gute zweitbeste Möglichkeit, unsere Konzerte mitzuerleben.«

Über die Digital Concert Hall ist der barrierefreie Zugang auch für jene Menschen möglich, die rein körperlich nicht in der Lage sind, ein Konzert zu besuchen oder die sich eine Konzertkarte nicht leisten können. »Unser Publikum lebt ja zum großen Teil gar nicht in Berlin. Dank unserer Mediengeschichte haben die Berliner Philharmoniker einen Freundeskreis, der sich über den ganzen Erdball verteilt und aus Menschen besteht, die noch nie ein Konzert von uns besucht haben. Wir sehen das als eine Erweiterung unseres Publikums«, sagt Tobias Möller.

Die Möglichkeiten aber seien längst nicht ausgeschöpft. Derzeit gebe es Überlegungen, wie der Bereich der Bildung ausgebaut werden könnte - durch Online-Meisterklassen etwa. »Man ist nie fertig«, sagt Möller, »es ist ein nicht endendes Work-in-progress.«

Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle und Anne-Sophie Mutter im Live-Stream der Digital Concert Hall am 31. Dezember ab 17.15 Uhr. digitalconcerthall.com

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