Müller, Meier, Schmitt

Jürgen Amendt findet, dass in der Shoa-Pädagogik Täter-Biografien mehr beachtet werden müssen.

  • Lesedauer: 2 Min.

Der industrielle Massenmord an den Juden, Sinti und Roma war eine Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, ja in der Menschheitsgeschichte. Und dies eben nicht, weil es ein Völkermord war (von denen gab es vorher - und nachher - reichlich viel zu viele), sondern weil er mit industriellen Methoden einzig und allein dem Ziel diente, mit der Ermordung der Opfer auch ihre Spuren aus der Erinnerung der Menschen zu tilgen. Dies gelang - zum Glück - nicht, weshalb die Schulen in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Vielzahl von Überlebenden zurückgreifen konnten, die über die Shoa Zeugnis ablegen konnten.

Die Erinnerung an die Opfer ist heute in Deutschland unübersehbar präsent: in den sogenannten Stolpersteinen, Gedenktafeln, Buchveröffentlichungen, Ausstellungen. Die Täter sind es auch - allerdings für die meisten Jugendlichen auf eine recht abstrakte Art und Weise: als längst Verstorbene in Geschichtsbüchern, zu denen sie keinen persönlichen Bezug haben. Diese Täter heißen Hitler, Goebbels, Heydrich, Himmler, Höß, Göth, aber eben nicht Müller, Meier, Schmitt.

Für deren Urenkel, sind die vergilbten Fotos, auf denen die deportierten Juden aus der Nachbarschaft eben jener Müllers, Meiers und Schmitts zu sehen sind, die sich als Mittäter schuldig bzw. durch Schweigen mitschuldig gemacht haben, abstrakte Geschichtsdokumente, denn die Nachfahren des in Birkenau vergasten jüdischen Viehhändlers oder der beim Transport verhungerten jüdischen Schneiderin leben meist nicht mehr in den einstigen Heimatorten ihrer Urgroßeltern.

Die Fotos in den Alben der Müllers, Meiers und Schmitts sind dagegen konkrete, biografische Zeugnisse, aus denen eine konkrete, neue Erinnerungsarbeit erwachsen kann. Gedenktafeln, die die Namen derer enthalten, die aus dem Wohnviertel, der Kleinstadt oder dem Dorf vertrieben wurden, benötigen ihr komplementäres Gegenstück: Tafeln zum Beispiel, auf denen zu lesen ist, dass es der SA-Mann Schmitt war, der seine Nachbarn mit dem Prügel zum Bahnhof trieb. Und es braucht einen Schulunterricht, in dem Jugendliche darüber reden können, dass die Müllers und Meiers aus stillschweigender Übereinkunft mit den Tätern oder aus Scham über das eigene moralische Versagen lange, viel zu lange darüber geschwiegen haben.

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