Berliner SPD will Vollbeschäftigung

Sozialdemokraten aus der Hauptstadt in Jena in Klausur: Schwerpunkte Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik

  • Nicolas Sustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Berliner SPD-Fraktion ist seit Freitag in Klausur - im thüringischen Jena. Bei einer Rede am Samstag betonte der Regierende Bürgermeister Michael Müller die Schwerpunkte Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik. »Wir sind so gefordert mit Aktuellem, dass dieses wichtige Themenfeld zu kurz kommt«, sagte er. Berlin werde zu einer richtigen europäischen Metropole. Das treffe Berlin »mit voller Wucht«. So ein spürbares Wirtschaftswachstum habe es früher nicht gegeben. »Was wir jetzt erleben ist ein Aufholprozess der schwachen Jahre zwischen 1995 und 2005«, sagte Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Noch habe Berlin als einzige europäische Hauptstadt eine Wirtschaftskraft, die unter dem Landesdurchschnitt liegt.

Berlin sei ein »selbstbewusster Impulsgeber« bei den Themen Digitalisierung und Star Ups, sagte Müller. Die gerade ankommenden Flüchtlinge schrieben ein neues Kapitel in der Berliner Migrationsgeschichte. »Zuwanderung hat Berlin über Jahrhunderte positiv beeinflusst, jetzt ist es wieder so weit«, so Müller. »Nicht nur für die 80.000 Flüchtlinge sondern auch für die 180.000 Arbeitslosen aus der Stadt müssen wir etwas tun«, betonte er.

Nach den Worten von Detlef Scheele, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, rechnet man dort damit, dass von bundesweit 1,1 Millionen Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen, etwa 380.000 auf den Arbeitsmarkt kämen, was angesichts von über 32 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unproblematisch sei. Auf Berlin heruntergerechnet wären das knapp 28.000 Flüchtlinge. Man rechne mit ähnlichen Vermittlungsquoten wie bei Langzeitarbeitslosen, was hieße, dass nach einem Jahr zehn Prozent eine Beschäftigung hätten und nach fünf Jahren 50 Prozent.

Wichtig sei eine konsequente Integrationspolitik mit Chancengleichheit. »Ich meine ausdrücklich nicht Chancengerechtigkeit«, grenzte Müller sich von dem Schlagwort aus der Ära von Kanzler Gerhard Schröder ab. Die aktuelle wirtschaftliche Dynamik müsse jetzt mitgenommen werden, um für schlechte Zeiten gerüstet zu sein, die wieder kommen können. »Es ist so, irgendwann wird die Karawane wieder weiterziehen.« Ziel sei die Vollbeschäftigung, also eine Arbeitslosenrate zwischen zwei und vier Prozent.

Ein wichtiges Thema war auch die Digitalisierung von Arbeit und Industrie. »Das Thema Industrie 4.0 wird ein bisschen so diskutiert als wäre es Science-Fiction«, beklagte der stellvertretende Berlin-Brandenburger DGB-Landesvorsitzende Christian Hossbach. Diese einschneidende Änderung bringt viele Chancen und Risiken, die nur durch entsprechende Beschäftigung mit dem Komplex gestaltbar sind.

Bei der Einwerbung von Risikokapital für Start-Up-Unternehmen lag Berlin 2015 das zweite Mal in Folge vor London. Müller führt das und das aktuelle Wirtschaftswachstum darauf zurück, dass man sich auf Dinge konzentriert habe, wo die Stadt stark ist. »Wer Investitionen wie in die Schulsanierung haben will, muss sich um die Wirtschafts- und Arbeitspolitik kümmern«, sagte Müller. Bei der Industriepolitik habe es mit Harald Wolf einen Senator gegeben, der sie nach vorne gebracht habe, sagte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Burgunde Grosse. Unter rot-schwarz habe sie den Eindruck, dass der industriepolitische Dialog wieder ins Stocken geraten ist.

Für Flüchtlinge sei ein noch stärkerer Zugang zu den Universitäten notwendig. Hier habe man sich gegen den Koalitionspartner CDU durchsetzen können. Flüchtlinge müssten aber auch »schnell und konkret« auch an handwerkliche Berufe herangeführt werden. »Wir wollen möglichst vielen Beschäftigungsperspektiven in ihren Unterkünften geben«, kündigte Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen an. Dabei ginge es um Tätigkeiten als Sprachmittler oder bei Unterhaltsarbeiten. Der Öffentlicher Sektor könne als Beschäftigungstreiber eine neue Rolle übernehmen.

Müller möchte Ausbildungsberufe wieder mehr in den Fokus rücken. Sie könnten selbstbewusst und gleichberechtigt neben akademischen Berufen stehen. Er wünscht sich die Einrichtung von dualen Ausbildungen, bei denen das Abitur erworben werden kann. Damit stünden den jungen Menschen beide Möglichkeiten offen. Sehr vage waren seine Ideen zu einem »Freiwilligen industriellen Jahr«, ähnlich der bereits existierenden ökologischen oder sozialen Freiwilligendienste.

Bereits 60.000 Stellen gebe es bei Start Ups, jedoch praktisch keine Ausbildung. Hier müsse etwas geschehen, zum Beispiel durch eine »Auffangsituation«, die dafür sorgen soll, dass die angefangene Berufsausbildung auch abgeschlossen werden kann, selbst wenn die Firma scheitere.

Die Kommunalisierungsstrategie bei den Energienetzen bezeichnete Müller als knallharte Wirtschaftspolitik. »Wir machen uns nicht abhängig von Konzernentscheidungen in Paris oder London.«

Die Forderung des Wirtschaftsforschers Fratzsche, angesichts der anstehenden hohen Investitionen – ein Szenario rechnet mit bis zu einer Million Neuzugezogener bis 2030 – zumindest über Öffentlich-Private Partnerschaften nachzudenken, stieß bei der Fraktion auf wenig Gegenliebe.

Die SPD-Klausur läuft noch bis Sonntagvormittag. Dann soll auch eine Resolution verabschiedet werden mit verschiedenen konkreten politischen Zielen. Bekannt sind schon die Bestrebungen von Fraktionschef Raed Saleh, die Hortgebühren an Ganztagsschulen komplett abzuschaffen.

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