Russische Lügenpresse?

Die Medien und der »Vertrauensverlust«

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.
Medien müssen in Zeiten von Twitter und Facebook schier unlösbares leisten: Sie sollen umfassend informieren, neutral berichten und doch noch das wildeste Gerücht in den Rang einer seriösen Nachricht erheben.

Im Zeitalter der Mediengesellschaft, in der die politische Rede auf öffentlichen Plätzen durch die TV-Talkshow, das Gerüchtegemurmel in den Gassen, Pranger und Stammtisch durch Twitter, Facebook und »Bild« und Co. ersetzt wurden, müssen Medien schier unlösbares leisten: Sie sollen umfassend informieren, neutral berichten und doch noch das wildeste Gerücht in den Rang einer seriösen Nachricht erheben.

Dass Journalisten dabei an Grenzen stoßen, liegt auf der Hand. So sorgt seit Kurzem der Fall einer 13-Jährigen aus Berlin bundesweit für Aufregung und Empörung vornehmlich unter Deutsch-Russen. Das Mädchen aus einer Familie von russischen Spätaussiedlern verschwand Mitte Januar spurlos. Als sie nach mehr als einem Tag wieder auftauchte, wurde von ihrer Familie verbreitet, das Mädchen sei von »südländisch aussehenden« Männern verschleppt, festgehalten und mehrfach vergewaltigt worden. Obwohl die Polizei erklärte, es gebe keinerlei Hinweise auf eine Entführung und auf eine Vergewaltigung und die Medien hierzulande entsprechend berichteten, verbreitete sich das Gerücht, Araber hätten das Mädchen entführt und vergewaltigt, wie ein Lauffeuer unter deutsch-russischen Einwanderern. Bundesweit gab es Demonstrationen, auf Kundgebungen wurde eine schnelle Ermittlung der Täter gefordert; die angebliche Tat wurde als Beleg für die »Gefahr durch die Flüchtlingsschwemme« gesehen. Sogar der russische Außenminister Lawrow schaltete sich ein und warf den deutschen Behörden Vertuschung vor.

Auslöser der Welle war ein Video des russischen Senders »Erster Kanal« (1tv.ru), das auf Facebook und Youtube verbreitet wurde, und in dem von der angeblichen Vergewaltigung und der Angst der Russland-Deutschen vor marodierenden Flüchtlingen berichtet wurde. Der Clip wurde mit deutschen Untertiteln millionenfach angeschaut. Eine Flut von Hasskommentaren war die Folge. Der russische Staatssender Rossija 24 sah den Fall als Beleg dafür, dass Westeuropa ein unsicherer Ort geworden sei und immer weniger Menschen in Deutschland glauben, »dass die Migranten keine Gefahr darstellen«.

Die Falschmeldung von der Vergewaltigung eines Mädchens durch Flüchtlinge hält sich hartnäckig in den sozialen Netzwerken. Mehrfache Hinweise der Berliner Staatsanwaltschaft, dass die 13-Jährige nach den vorliegenden Erkenntnissen mit zwei jungen Männern freiwillig mitgegangen und dass es zu einvernehmlichem Sex gekommen sei (der nach deutschem Recht gleichwohl strafbar ist, weil das Mädchen jünger als 14 ist), stoßen bei einem Teil der Bürger (nicht nur bei Deutsch-Russen!) auf Unglauben.

Das könnte man als weiteren Beleg für die »Vertrauenskrise der Medien« in Deutschland sehen. Diese These ist seit der Debatte über die Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt zentraler Bestandteil der Medienkritik. Deutsche TV-Sender und Zeitungen leiden, so die Annahme, unter einem Glaubwürdigkeitsverlust. In der Tat gibt es das Phänomen, dass nicht nur bei der Ukraine-Berichterstattung russische Medien wie RT Deutsch auf ein steigendes Interesse stoßen, denen - wie der Vorfall mit der angeblich vergewaltigten 13-Jährigen in Berlin zeigt - offenbar mehr Vertrauen als deutschen Medien geschenkt wird. Der Vorwurf der »Lügenpresse« ist mittlerweile selbst unter den derart Gescholtenen so populär, dass sich einige von ihnen, wie kürzlich Moderator Frank Plasberg in seinem Politboulevard-Talk »Hart aber fair«, bereitwillig selbst Asche aufs Haupt streuen.

Die beiden Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinmann und Nayla Fawzi können allerdings der These vom Glaubwürdigkeitsverlust der Medien wenig abgewinnen. In einem Essay für den Berliner »Tagesspiegel« (»Eine vergebliche Suche nach der Lügenpresse«) verweisen sie auf Mängel bei der Interpretation entsprechender Studien und Umfragen. So habe das NDR-Medienmagazin »Zapp« von »alarmierenden Zahlen« berichtet. Demnach sei zwischen 2012 und 2015 die Zahl derer, die den Medien großes oder sehr großes Vertrauen entgegengebracht hätten, von 40 auf 29 Prozent gesunken. Ein längerfristiger Vergleich zeige aber, so Reinmann und Fawzi, dass der Wert von 2012 ein einmaliger Ausreißer nach oben gewesen sei.

Zieht man andere Untersuchungen heran, die bis zu Beginn der 1990er Jahre zurückreichen, zeigt sich zudem, dass die »Glaubwürdigkeitskrise« der Medien Mitte der 1990er am größten war und die Zahl derer, die sehr oder viel Vertrauen in die klassischen Medien haben, seit Mitte der Nullerjahre tendenziell sogar steigt. Reinmann und Fawzi ziehen daraus drei Schlüsse. »Erstens steht ein Großteil der Deutschen der Presse und dem Fernsehen schon seit Jahrzehnten eher skeptisch gegenüber. Zweitens konnten Zeitungen und Rundfunk seit der Etablierung des Internets an Vertrauen gewinnen. Drittens hält sich der Anteil von Skeptikern und Vertrauenden etwa die Waage, wenn auch mit einem leichten Übergewicht für die Skeptiker.«

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