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Berlinale zwischen Aktualität und Anspruch

Wie jedes Jahr: Zum Abschluss gibt es die Preise. Eine Bilanz von Gunnar Decker zu einem Festival, das politisch sein will, ohne dabei das Filmische aus den Augen zu verlieren

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
In diesem Jahr konnte – und wollte – sich die Berlinale nicht dem
 alles beherrschenden Flüchtlingsthema 
entziehen. So spiegelt das Festival einerseits die aktuelle politische Situation, ohne dabei jedoch den cineastischen Anspruch hinten an zu stellen.

Es war die Berlinale der gemischten Gefühle. Als der polnische Autor Tomasz Wasilewski den Silbernen Bären für das beste Drehbuch zu »Zjednoczone stany milosci« überreicht bekommt, seufzt er: »Ich schreibe, um einmal Regie führen zu können, aber jetzt muss ich wohl weiterschreiben.« So ist das, wir machen Pläne und das Leben macht mit uns, was es will.

Anke Engelke moderiert mit gewohnt biestigem Charme, aber ihr Lächeln hat dieses Jahr etwas von einer Rasierklinge, signalisiert: kommt mir nicht zu nah! Macht dann vorsichtshalber auch niemand, sogar Dieter Kosslick, der Allroundmoderator, hält Sicherheitsabstand. Ja, das Berlinale-Leitungsteam, zu der Anke Engelke im weitesten Sinne dazu gehört, kommt in die Jahre. Man liebt sich nicht mehr wie am ersten Tag, aber das muss ja nicht gleich jeder wissen.

Die Preise

Goldener Bär: »Fuocoammare« von Gianfranco Rosi (Italien)

Silberner Bär, Großer Preis der Jury: »Smrt u Sarajevu / Mort à Sarajevo« von Danis Tanović (Bosnien und Herzegowina) Silberner Bär für die beste Regie: Mia Hansen-Løve (Frankreich) für »L’avenir«

Silberner Bär für die beste Darstellerin: Trine Dyrholm (Dänemark) für »Kollektivet«

Silberner Bär für den besten Darsteller: Majd Mastour (Tunesien) für »Inhebbek Hedi«

Silberner Bär für herausragende künstlerische Leistung: Mark Lee Ping-Bing (China) für die Kamera in »Chang Jiang Tu«

Silberner Bär für das beste Drehbuch: Tomasz Wasilewski (Polen) für »Zjednoczone Stany Miłosci«

Alfred-Bauer-Preis: »Hele Sa Hiwagang Hapis« von Lav Diaz (Philippinen)

Goldener Bär für den besten Kurzfilm: »Balada de um Batráquio« von Leonor Teles (Portugal)

Silberner Bär für den besten Kurzfilm: »A Man Returned« von Mahdi Fleifel (Dänemark/Palestina)

Bester Erstlingsfilm: »Inhebbek Hedi« von Mohamed Ben Attia (Tunesien)

Fipresci-Preis des internationalen Verbandes der Filmkritik: »Smrt u Sarajevu« von Danis Tanović (Bosnien und Herzegovina), »Aloys« von Tobias Nölle (Schweiz) und »The Revolution Won't Be Televised« von Rama Thiaw (Senegal) Teddy Award: »Kater« von Händl Klaus (Österreich)

Generation 14+ Gläserner Bär für den besten Film: »Es esmu šeit« von Renārs Vimba (Lettland)

K+ Gläserner Bär für den besten Film: »Ottaal« von Jayaraj Rajasekharan Nair (Indien)

Das war auch das Thema von »Kollektivet« (»Die Kommune«) von Thomas Vinterberg, diese großartige Destruktion aller Lebenslügen bei gleichzeitiger Schonung jener Utopien, die das Leben erst zu etwas machen, das jenseits der bloßen Alltagsmechanik einen Sinn hat.

Kann sein, dass man diesem so energisch verteidigten Prinzip der Veränderung aus Lebensneugier dann selbst zum Opfer fällt, wie Anna, die Ehefrau des Architekten Erik - der sich, kaum ist die Kommune beisammen, mit der jungen Studentin Emma verbindet. Trine Dyrholm ist Anna und sie bekam den Silbernen Bären für die beste weibliche Hauptdarstellerin. Sehr verdient, denn der von ihr gezeigte, erst langsame, dann plötzliche Auflösungsprozess der falschen Rolle, die sie im Eheleben spielt, gehörte zu den eindrucksvollsten Leistungen des Wettbewerbs.

Den Preis überreichte ihr dann Jurypräsidentin Meryl Streep persönlich. Mancher hätte auf Isabelle Huppert gewettet, die in »L’avenir« eine Philosophieprofessorin spielt, der das Altern eine arge Probe auf all ihr Weltwissen ist. Ein eindrucksvoller Übergangsfilm. Doch nicht sie bekam den Darsteller-Preis, dafür aber ihre junge Regisseurin Mia Hansen-Love den Silbernen Bären für die beste Regie. Ein kluge Entscheidung. Überhaupt, die Berlinale hat in den vergangenen Jahren immer Glück mit ihren Jurychefs gehabt (von Werner Herzog bis Isabella Rossellini). Auch Meryl Streep besitzt jederzeit jene Autorität, die man nicht erst lautstark unter Beweis stellen muss. Bei ihr genügt eine Geste, ein mit sanfter Entschiedenheit gesprochener Satz (»Wir sind alle Afrikaner« - gegen den unsinnigen Vorwurf, auch die Berlinale sei rassistisch, weil ohne schwarzes Jurymitglied) und die Atmosphäre klärt sich.

Weil die Berlinale (anders als Cannes oder Venedig) ein großes Publikumsfestival ist, stehen vor allem die Schauspieler im Zentrum. Doch in diesem Jahr konnte - und wollte - sich die Berlinale nicht dem alles beherrschenden Flüchtlingsthema entziehen. So spiegelt das Festival einerseits die aktuelle politische Situation, ohne dabei jedoch den cineastischen Anspruch hinten an zu stellen. Ein schwieriger Spagat in der Filmauswahl, der sich in den Juryentscheidungen fortsetzt.

Da, wo es so gelingt wie in »Inhebbek Hedi« von Mohammed Ben Attica aus Tunesien, war die Entscheidung unstrittig. Er bekam gleich zwei Preise, einmal für den besten Erstlingsfilm, dann aber auch den silbernen Bären für den besten männlichen Darsteller. Und Majd Mastoura überzeugt als Autovertreter Hedi, der den zwiespältigen Aufbruch des arabischen Frühling in sich trägt, aber sich dennoch lange nicht entscheiden kann, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein auf leise Art starker Film mit einem Hauptdarsteller, dem man es ansieht, dass er es sich mit seinen Lebensfragen - Bleiben oder Gehen ist nur eine davon - nicht leicht macht.

Der achtstündige philippinische Film über Revolution und Verklärung »Hele Sa Hiwagang Hapis« von Lav Diaz, der wegen seiner Unhandlichkeit immerhin die Festivaltagesordnung revolutionierte, bekam den Alfred-Bauer-Preis für filmische Innovation. Den Preis, der in der Filmwelt als eine Berlinale-Trostpreis gilt, hätte man auch als Geduldspreis an das Publikum dieses nicht nur extrem langen, sondern ebenso langweiligen Films vergeben können.

Gar nicht langweilig, sondern gerade wegen seiner elegischen Stille der beste Film dieses Berlinale-Wettbewerbs, war für mich der chinesische Beitrag »Crosscurrent« (»Chang Jiang Tu«) von Yang Chao. Eine Flussreise zur Quelle des Jangtse, die zugleich zur Wiedergeburt des Films als Kunstform aus dem Geist des Fließens wurde! Ohne diesen Film wäre der Wettbewerb cineastisch unterdurchschnittlich geblieben. So aber bekam dann der taiwanesische Kameramann Mark Lee Ping-Bing den Silberner Bären für eine herausragende künstlerische Leistung.

Leer ging »Genius« von Michael Grandage über die innig-verzweifelte Beziehung des Autors Thomas Wolfe zu seinem Lektor Max Perkins im New York der 20er Jahre aus. Unverständlich, denn hier werden auf höchst subtile Weise Oberfläche wie Abgrund des Schöpferischen erkundet. Ebenso links liegen ließ die Jury den deutschen Beitrag »24 Wochen« der jungen Erfurter Regisseurin Anne Zohra Berrached. Das ist schade, denn nicht nur das Thema des Schwangerschaftsspätabbruchs wegen eines Missbildung des erwarteten Kindes ist brisant, sondern auch die schauspielerische Umsetzung von Julia Jentsch beeindruckte. Vielleicht aber war der Jury das Fernsehspielformat von »24 Wochen« dann doch zu offensichtlich.

Dass »Fuocoammare« von Gianfredo Rosi überhaupt in den Wettbewerb kam, verwunderte einige Festivalkenner. Ein reiner Dokumentarfilm habe auf einem Spielfilmfestival nichts zu suchen, meinten sie. Darf man die Genres so durcheinanderwerfen? Festivalchef Dieter Kosslick gab zu verstehen, dass er das auch künftig vorhat (was ihm bei den Filmeinsendungen im nächsten Jahr noch Kopfschmerzen bereiten wird). Tatsächlich ist »Fuocoammare« ein Beitrag, der auf einem Filmfestival des Jahres 2016 notwendig erscheint. Regisseur Gianfranco Rosi lebte anderthalb Jahr auf Lampedusa, wo viele der afrikanischen Flüchtlinge ankommen. Oder eben auch nicht.

Wie die einheimischem Fischer mit den vielen Flüchtlingen leben, in welcher Verfassung diese Lampedusa - und damit Europa - erreichen, das ist wichtig zu sehen, unabhängig davon, ob dies nun in die Kategorie Spielfilm oder Dokumentarfilm gehört. Parallel zu den Flüchtlingen sehen wir traditionell lebende Einheimische, die zwischen tiefen Himmeln und rauer See hier seit Generationen ein schweres Leben führen. Die Fischer auf Lampedusa jedoch sind erstaunlich gelassen und freundlich angesichts der vielen Flüchtlinge, die auf ihrer Insel stranden, so erfuhr Gianfranco Rosi. Denn ihre Erfahrung lehrt sie, alles, was vom Meer kommt, schicksalhaft anzunehmen.

Die Jury gab »Fuocoammare« den Goldenen Bären als bester Film, was in diesem Falle wohl heißt: der Film zum drängendsten Thema der Gegenwart.

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