Der Seele Auslauf lassen

Im Slow-Life-Café in Berlin-Neukölln kämpfen junge Menschen mit Ausmalbüchern und Langsamlesen-Sessions gegen die Konkurrenzgesellschaft. Eine Reportage

  • Magnus Klaue
  • Lesedauer: 7 Min.
Hier gibt es die geeignete Kulisse für ein kreatives Erwachen: Die Wände sind in Altrosa gestrichen, in staubigen Biedermeier-Regalen stehen alte Taschenbuchausgaben von Marcel Proust, Anna Seghers und Franz Kafka.

»Damit bin ich heute fertig geworden, und ich bin ziemlich zufrieden«, sagt Ann-Brit und deutet bescheiden, aber nicht ohne Stolz auf den kunterbunten Schmetterling. Seine Flügel leuchten in sattem Rot und Orange, gesprenkelt mit violetten Flecken. Das prachtvolle Insekt, das den Eindruck erweckt, als könne es sich sogleich auf der Suche nach der Freiheit in die Lüfte erheben, hat sie mit Staedtler-Buntstiften auf ökologisch abbaubares Premiumpapier gezaubert. Eine Woche lang hat Ann-Brit an dem Schmetterling gearbeitet. Als Schwarzweiß-Vorlage verziert er den Band »Inspiration Garten Eden«, eine Neuerscheinung der Edition Michael Fischer. Bunt ist er erst durch Ann-Brit geworden. Die Edition Michael Fischer gehört zu den immer zahlreicheren Verlagen, die Ausmalbücher für Erwachsene anbieten. Ann-Brit ist auf sie durch Empfehlung ihrer Freundin Birte gestoßen, mit der sie vor einem Jahr den Kreativstrickshop Fantasiafaden gegründet hat. Der befindet sich in einem von Urban-Gardening-Aktivisten gestalteten Hinterhof im beschaulicheren Teil der angesagten Weserstraße in Berlin-Neukölln. Gleich zwei Ecken weiter hat Anfang des Jahres das Szenecafé Slow Life eröffnet, wo Ann-Brit und Birte sich jedes Wochenende auf ein paar Gläser Holunder-Bionade treffen. Dort war es, wo Birte Ann-Brit anvertraut hat, dass sie seit Monaten Bilderbücher ausmalt.

»Als sie mir ihr erstes ausgemaltes Buch gezeigt hat, traf mich die Erfahrung mit dem Chok einer Epiphanie«, sagt Ann-Brit. Sie macht gerade ihren Bachelor in Lateinamerikanistik und Transdisziplinären Gender᠆studien an der Humboldt-Universität, interessiert sich aber auch für Walter Benjamin und die französische Avantgarde. »Der Ansatz dieser Bücher ist krass kreativ, die Malen-nach-Zahlen-Bilder meiner Großmutter können da nicht mithalten.« Besonders ansprechend findet Ann-Brit, dass bei den neuen Ausmalbüchern jeder selbst entscheiden kann, mit welchen Farben welche Flächen ausgemalt werden. Und nicht nur das: »Es bleibt mir auch überlassen, welche Sorte Stifte ich verwende.« Bei ihrem ersten Ausmalbuch hat Ann-Brit noch naturalistisch gearbeitet. Doch die erfahrenere Birte war eine scharfe Kritikerin: »Sie meinte, schließlich habe schon Franz Marc blaue Pferde gemalt, da könne ich ruhig mehr Mut haben, mein Potenzial zu erkunden.« Daraufhin begann Ann-Brit, den Freiraum, den die Bücher ihr boten, bis an den Rand auszuschöpfen. »Ich malte grüne Schafe und schwarze Bäume«, erzählt sie, »bis ich bemerkte, dass mir dieser neue Antirealismus nicht wirklich etwas geben konnte.« Der Schmetterling ist eines der ersten Zeugnisse des gemäßigten Impressionismus, zu dem sie seither gefunden hat.

Im Slow Life, wo Ann-Brit bei einer Tasse Ingwertee Proben ihrer Arbeit vorführt, ist es inzwischen geschäftig geworden. Zwei junge Männer mit Dutt gruppieren einige Sessel zu einer Runde. Ann-Brit stellt die beiden vor, sie heißen Valentin und Hannes und betreiben im Hof eine antinationale Suppenküche. »Die beiden leiten das Slow-Reading-Seminar, an dem ich nachher teilnehme«, freut sich die Nachwuchskünstlerin. Slow-Reading? Heißt das nicht Speed-Reading? Ann-Brit lacht. »Nein, gegen diesen Effizienzfetisch wehren wir uns ja gerade. Es geht darum, sich auf sprachliche Gebilde einzulassen und sie vorbehaltlos anzunehmen.« Dafür brauche es viel Muße. »Mensch muss den Kopf richtig freibekommen, damit die Seele ihren Auslauf haben kann. Zeitdruck, Konkurrenz und Ehrgeiz müssen versiegen, damit die Kreativität zum Leben erwacht. Darin ähnelt Slow-Reading dem kreativen Ausmalen.«

Das Slow Life bietet die geeignete Kulisse für ein solches Erwachen. Die Wände sind in Altrosa gestrichen, die locker im Raum verteilten Sessel und Sofas mit verschlissenem Chintz bezogen. In staubigen Biedermeier-Regalen stehen alte Taschenbuchausgaben von Marcel Proust, Anna Seghers und Franz Kafka. Heute wird aber etwas anderes gelesen. »Wir haben erst mal mit kurzen Texten von Robert Walser begonnen«, berichtet Valentin. »Romane sind nicht das Richtige für Slow-Reading-Neulinge.« Er und Hannes haben vor zwei Monaten mit den Sessions begonnen. »Am Anfang haben wir in jeder Sitzung zwei Seiten gelesen«, erzählt Hannes, »aber wir konnten uns steigern. Heute schaffen wir höchstens einen Absatz pro Woche.« Für Hannes und Valentin ist Slow-Reading eine Erfahrung, die ihnen erlaubt, ihren engen kulturellen Horizont zu überschreiten. »Das linear-teleologische Lesen folgt dem Primat des Logos«, erklärt Hannes, der an der Humboldt-Universität Europäische Ethnologie studiert und in den Semesterferien Creative-Writing-Kurse für Menschen mit Migrationshintergrund veranstaltet. »Slow-Reading gibt mir die Möglichkeit, in den Worten eines Buches zu versinken, statt sie nur zu begreifen.« Valentin, der in Neukölln einen Bike-Sharing-Shop betreibt, stimmt begeistert zu: »Am Wochenende bin ich zwei Stunden lang in einer einzigen Silbe von Proust eingetaucht. In dieser Silbe fand ich das ganze Buch, obwohl ich es noch nicht gelesen habe.«

Slow-Reading und Ausmalbücher sind neue Trendsetter der Freizeitgestaltung. Seit junge Menschen und kreative Freiberufler das Ausmalen als Erholung von den Herausforderungen ihres Alltags entdeckt haben, vermelden auch Hersteller von Buntstiften Absatzrekorde. Insbesondere für Fineliner registriert die Nürnberger Firma Staedtler einen nie dagewesenen Nachfrageschub. Der Stiftehersteller Stabilo bietet sein Set »Kreative Auszeit« mit 15 Finelinern inklusive Ausmalbuch inzwischen in der zweiten Auflage an. Ann-Brit sieht diese Entwicklung kritisch: »Ein bestimmtes Buch zusammen mit einer feststehenden Auswahl an Stiften schränkt das kreative Potenzial ein«, findet sie. »Außerdem muss mensch natürlich die Verwertungslogik hinterfragen, die solchen Angeboten zugrunde liegt.« Hannes, der betont, dass die Slow-Reading-Sessions nach wie vor kostenlos angeboten werden, stimmt ihr zu: »Die entschleunigte kreative Auszeit, die wir hier zu leben versuchen, ist ein Gegenentwurf zum kommerzialisierten Alltag.« Die »analoge Sehnsucht«, die immer mehr Menschen in der kalten digitalen Wirklichkeit umtreibe, werde sich durch Rekuperierungsversuche wie den von Stabilo aber nicht befrieden lassen. »Es gibt eine immer noch gültige Kritik an solchen Vereinnahmungen von Guy Debord, von dem wir nächsten Monat zwei Sätze in unserem Seminar lesen wollen.«

Ann-Brit freut sich, dass das Slow Life sich zu einem Begegnungsort von Ausmalkünstlern und Slow-Readern entwickelt hat. Unzufrieden ist sie nur darüber, dass es immer noch einen Gender Gap zwischen beiden Gruppen gibt. Unter den rund 20 Teilnehmern des Slow-Reading-Seminars sei sie eine der wenigen Frauen. »Viele weiblich gelesene oder queere Menschen sehen Lesen immer noch als patriarchale Praxis. Dabei ist Slow-Reading eine gelebte Kritik am westlichen Phallogozentrismus«, findet sie. Valentin ergänzt, dass er als Cis-Mann immer noch Schwierigkeiten habe, sich auf das Ausmalen einzulassen: »Ausmalen ist leider nach wie vor weiblich codiert und Lesen männlich. Aber vielleicht gelingt es uns gemeinsam, solche kulturellen Stereotypen zu dekonstruieren.«

Müsse es nicht »Stereotype« heißen, hinterfragt Ann-Brit Valentins heteronormative Ausdruckweise. Es heiße doch »das Stereotyp«, und die Mehrzahl sei »die Stereotype«. »Die Typen« dagegen sei die Mehrzahl von »der Typ«, und das sei die Bezeichnung für einen Mann. Valentin wendet ein, wer allzu sehr auf grammatische Regeln poche, beweise damit nur, wie stark er selbst in der heteronormativen Ordnung befangen sei. »Nicht er selbst, sondern sie selbst«, widerspricht Ann-Brit und wendet sich einem anderen Ausmalbuch zu, um am türkisen Schwanz einer Katze weiterzuarbeiten. »Wenn es dir gelingt, einmal wirklich in den Worten aufzugehen, dann erfährst du die Nichtigkeit solcher binären Oppositionen«, meint Valentin und macht sich wieder an die Vorbereitungen der Slow-Reading-Runde.

Er möge solche Kontroversen, stellt Valentin klar: »Bei Konflikten dieser Art wächst man über sich hinaus und kann sie gleich in die nächste Leseerfahrung einbringen.« Inzwischen nehmen Ann-Brit und Hannes Birte in Empfang, die heute Abend ihr erstes suprematistisches Ausmalbuch vorstellen wird. »Zwischen diesen Bildern und den ersten Sätzen von Robert Walser können sich interessante Wechselwirkungen ergeben«, sagt Hannes. »Walser hat sich im Laufe seines Schreibens ja auch immer stärker von der Wirklichkeit entfernt.« »Wobei mensch das Konzept der Wirklichkeit natürlich radikal hinterfragen muss«, ergänzt Ann-Brit. Sie ist mit dem türkisen Katzenschwanz fertig und tauscht ihr Ausmalbuch gegen einen Suhrkamp-Band, um sich auf die dritte Silbe von Robert Walser einzulassen.

Magnus Klaue lebt und arbeitet als Slow-Writing-Coach in Leipzig.

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