Nirgends eine Stunde Null

1946 - das Jahr, in dem die Welt neu erstand. Oder auch nicht. Von Karlen Vesper

Ostern fiel 1946 in die späten Apriltage. Besinnliche und beglückende Momente bescherte den im Berliner Admiralspalast versammelten Männern und Frauen indes nicht die glaubensgestützte Gewissheit, dass Gottes Sohn auferstanden ist. »Neues Deutschland« berichtete in seiner ersten Ausgabe ausführlich über den zwei Tage zuvor, am Ostersonntag, mit Beethoven eröffneten Vereinigungsparteitag. Wilhelm Pieck von der KPD und Otto Grotewohl von der SPD schworen sich und ihren begeisterten Zuhörern - »unter nicht enden wollenden Beifall« - die Beendigung eines dreißigjährigen Bruderzwistes. »Ein alter Traum ist Wirklichkeit geworden, die Einheit der deutschen Arbeiterklasse«, rief Grotewohl aus. Pieck ergänzte: »Die großen Aufgaben, die vor der Sozialistischen Einheitspartei stehen, konzentrieren sich in der Schaffung eines neuen Deutschland und der Herausführung unseres Volkes aus seiner Not.« Das sei der Sinn ihrer beider Händedrucks und zugleich heiliges Gelöbnis. »ND« stellte sich als »eine deutsche Zeitung« vor: »Sie bekennt sich zur Einheit unseres Vaterlandes ... Sie ist eine sozialistische Zeitung. Schöpfend aus der revolutionären Überlieferung der Vergangen- heit ... Sie ist eine Zeitung der Schaffenden. Das Leben des werktätigen Volkes in Stadt und Land soll hier sein Echo finden.«

Die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und die Geburt des »Neuen Deutschland« gehören für Victor Sebestyen nicht zu den wichtigsten Zäsuren des Jahres 1946, werden von ihm aber (mit den bekannten Klischees) erwähnt. Der britische Journalist hat ein Buch über das erste Nachkriegsjahr verfasst, in dem seiner Meinung nach »die Welt neu erstand«. Denn: »Der Kalte Krieg begann, die Welt teilte sich entlang der ideologischen Bruchlinien, und Europa zerfiel in zwei Hälften zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.« Vor 70 Jahren seien die Entscheidungen gefallen, die die Bildung der jüdischen Heimatstatt ermöglichten, obwohl der Staat Israel erst 1948 entstand. »Die imperiale Macht des alten Britanniens begann zu bröckeln. Alle europäischen Kolonialreiche befanden sich im Zerfall.« Indien kämpfte um seine Unabhängigkeit und ist heute die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, so Sebestyen. 1946 sei ebenso das Jahr gewesen, in dem die chinesischen Kommunisten siegten und den »erneuten Aufstieg Chinas zur Großmacht eingeleitet« hätten. Kühn verkürzte Linien. Das unabhängige Indien wie auch die Volksrepublik China wurden am 15. August 1947 (von Jawaharlal Nehru) respektive am 1. Oktober 1949 (durch Mao Tse-tung) proklamiert. Zu Global Playern avancieren sie erst jetzt.

Literatur

Victor Sebestyen: 1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand. Rowohlt Berlin. 539 S., geb., 26,95 €.

Gewiss wurden im ersten Nachkriegsjahr entscheidende Weichen gestellt. Im September 1946 unterzeichneten der US-amerikanische und der britische Außenminister einen Vertrag über die wirtschaftliche Vereinigung ihrer beiden Besatzungszonen Deutschlands; der sogenannten Bizone folgte mit dem Anschluss der Franzosen die kurzlebige Trizone und schließlich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland per Verfassungsakt am 23. Mai 1949. Vergeblich hatte Grotewohl auf dem Vereinigungsparteitag vor westlichen Abspaltungsambitionen gewarnt.

»1946 herrschte nirgendwo viel Optimismus«, schreibt Sebestyen. Tatsächlich waren damals Millionen Menschen unterwegs, in die alte oder eine neue Heimat: hungrige, erschöpfte und doch glücklich überlebende Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die sogenannten Displaced Persons. Millionen desillusionierte und verängstigte Deutsche schleppten sich aus den vormaligen »Ostgebieten« westwärts. »Unter den Siegern herrscht ein babylonisches Stimmengewirr; unter den Besiegten das trotzige Schweigen der Verzweiflung«, notierte treffend Winston Churchill, der damals abgewählte britische Kriegspremier; seine Landsleute wollten, dass in Friedenszeiten Labour regiert.

Die sich 1946 im Osten Deutschlands freiwillig-begeistert, aber auch unter Druck vereinigenden Kommunisten und Sozialdemokraten sowie »Neues Deutschland« wähnten sich auf der Seite der Sieger. Durften sie auch. Im Gegensatz zur Mehrheit des deutschen Volkes, das sich schuldig gemacht hatte. In keinem Krieg zuvor waren so viele Menschen getötet worden wie in dem von Hitler-Deutschland entfesselten: 60 Millionen innerhalb von sechs Jahren und allein sechs Millionen Menschen einer vermeintlich homogenen Ethnie (im NS-Jargon »Rasse«). »Von der Seine bis zum Donaudelta war das Kernland Europas zerstört worden«, schreibt Sebestyen. Berlin und Hiroshima lieferten die eindringlichsten Bilder des Krieges, beide Städte waren zu drei Vierteln Trümmerwüste, letztere aufgrund eines einzigen (Atom)Bombenabwurfs.

Keine einzige Bombe hatte die Vereinigten Staaten von Amerika getroffen. »War is hell, but America had a hell of a War«, lautete das scharfsinnige Urteil eines bekannten US-Kolumnisten (Krieg ist die Hölle, aber Amerika hatte einen verdammt guten Krieg). Sebestyen kommentiert: »Die überwältigende wirtschaftliche, finanzielle und militärische Dominanz der USA auf der Weltbühne begann 1946.« Die USA galten als Kornkammer und Produktionswerkstatt der Welt. Anfang 1946 wurden dort mehr Waren hergestellt als in allen anderen, noch kriegsgezeichneten Staaten zusammen. Der US-Dollar avancierte zur wichtigsten Währung. Washington vergab Kredite und diktierte den Zinssatz (und einiges mehr). In ganz anderer Lage befand sich die UdSSR. Deren menschliche Verluste waren allein bei der deutsch-faschistischen Belagerung von Leningrad größer als die der Amerikaner und Briten im gesamten verdammten Krieg. Und doch halfen jene den besiegten Deutschen uneigennütziger und nachhaltiger als die Amerikaner und Briten; in der britischen Zone war die Hungersnot am größten. (Und, nebenbei bemerkt, nicht nur in sowjetischen Internierungslagern starben Menschen wie Fliegen, auch in den Lagern auf den Rheinwiesen.)

Bewundernd konstatiert Sebestyen: »Trotz allem Nachkriegschaos im Transport- und Verteilungswesen waren die Russen überraschend effizient ... Als es zu Nahrungsmittelengpässen kam, schickten die Russen Sonderrationen nach Deutschland - selbst im Hungerwinter 1945/46, als die Sowjetbürger selbst kaum etwas hatten und mehr als anderthalb Millionen von ihnen verhungerten.« »ND« berichtete über diese Hilfe ausgiebig und dankbar, wie auch über die Unterstützung bei der Wieder- und Neubelebung des kulturellen, geistigen und wissenschaftlichen Lebens mit oder ohne SMAD-Befehl, mit oder ohne Lizenz der Besatzungsmacht. Plünderungen und Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee (1946 allerdings bereits abgeebbt und unter drakonischen Strafen gestellt) waren für »ND« kein Thema (dies war einem späteren Chefredakteur vorbehalten). Sebestyen geht darauf und auf die Demontagen in der SBZ im elften Kapitel seines Buches ein, die inzwischen nachgewiesenen sexuellen Übergriffe in den Westzonen prangert er nicht an, wohl aber Beutezüge von GIs (z. B. Quedlinburger Domschatz).

Der 1956 in Budapest geborene Autor, der schon im Kindesalter mit den Eltern Ungarn verließ, ist kein Freund der Sowjetunion oder des Kommunismus. Es erschien ihm ein Gebot historischer Redlichkeit, gegen allzu arge Mythen zu polemisieren, wie gegen die in den vergangenen 25 Jahren vor allem in postsozialistischen Staaten aufgewärmte Mär, die Westmächte hätten nach dem Zweiten Weltkrieg Mittel- und Osteuropa leichtfertig an Stalin weggegeben - wofür die angebliche Appeasement-Politik des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Churchills auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 verantwortlich sei. »Es stand gar nicht in Amerikas oder Großbritanniens Macht, Osteuropa fortzuschenken«, widerspricht Sebestyen zu Recht. Zum einen war Osteuropa unter horrenden Opfern von der Roten Armee befreit und (völkerrechtlich strittig, doch damaligem Politikverständnis entsprechend) von Stalin als seine Einflusssphäre deklariert worden, zum anderen glaubten in Jalta Briten und US-Amerikaner, an der fernöstlichen Front gegen Japan noch auf die Sowjetunion angewiesen zu sein. »Die Nachkriegsvereinbarungen waren das Beste, was sie unter den gegebenen Umständen erreichen konnten, und ein Preis, der nicht zu hoch war für die Niederlage Hitlers«, verteidigt Sebestyen London und Washington.

Dies Einvernehmen änderte sich rasch. Roosevelts Nachfolger, US-Präsident Harry Truman, ließ bereits Anfang Januar 1946 seinen Außenminister James Byrnes wissen: »Ich glaube, wir sollten uns jetzt auf keine Kompromisse mehr einlassen. Ich habe es satt, die Sowjets mit Handschuhen anzufassen.« Das war die Geburtsstunde der Containment-Doktrin, des Versuchs weltweiter »Eindämmung des Kommunismus«. Denn nicht nur im Osten und in den nationalen Befreiungsbewegungen des Südens, auch in den westlichen Kolonialmetropolen waren antikapitalistische Ideen en vogue, wurde die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Banken sowie Bodenreformen gefordert.

Bei Sebestyen liest sich dies wie folgt: »In der Nachkriegszeit waren es nicht nur die Linken, die betonten, dass die Laissez-faire-Politik der freien Marktwirtschaft katastrophal gescheitert sei. Die Unfähigkeit der herrschenden Elite, etwas gegen die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, gegen Massenarbeitslosigkeit, Handelseinbrüche und den extremen Nationalismus zu unternehmen, hatte ins Chaos und zu Faschismus geführt - praktisch zum Zusammenbruch der gesamten europäischen Zivilisation.« Nur der »wohlwollende Staat«, so glaubten die meisten, könne die großen anstehenden Probleme lösen; nur der Staat sei in der Lage, Menschen und Ressourcen zu kollektiven Nutzen zu organisieren, so wie er auch die Bevölkerung während des Krieges mobilisiert hatte.

Die Idee des Sozialstaates war 1946 Konsens, wurde selbst von Konservativen mitgetragen. Das war natürlich auch eine Reaktion auf Ausstrahlung und Ansehen, das die Sowjetunion als Befreier und Siegermacht genoss. Mit dem Zerbröseln ihres Imperiums begann der Angriff auf den Sozialstaat, vor dessen Scherbenhaufen wir heute stehen.

Erstand die Welt 1946 wirklich neu? Nein, viel Altes lebte fort, nicht nur nazistischer Ungeist in deutschen Landen. Es gab keine Stunde Null. Nirgends. Sebestyen selbst verweist auf fortlebenden Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus, darunter auf die Pogrome gegen Juden in Polen, Ungarn und der Slowakei. Wohl aber wurde vor 70 Jahren die Welt bipolar. »Die Verbündeten in einem der verheerendsten Konflikte der Geschichte hatten nur ein halbes Jahr gebraucht, um zu Feinden zu werden - woran sich während der nächsten vier Jahrzehnte nichts ändern sollte.«

Das war nicht determiniert, nicht genetisch in einer Jahreszahl eingepflanzt. Für uns heute noch höchst relevante Ereignisse fanden bereits im Vorjahr statt, so die Gründung der UNO oder die Begründung des modernen Völkerstrafrechts mit dem Nürnberger Militärtribunal (beides im Herbst 1945). Europa hatten sich die alliierten Hauptsiegermächte schon während des Krieges aufgeteilt und mit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 bekräftigt. Weshalb es zur »griechischen Tragödie« kam, dem 1946 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Hellas, in dem Briten und US-Amerikaner die Royalisten und Reaktionäre unterstützten und Stalin die Kommunisten - gemäß einer Absprache mit Churchill auf der Moskauer Konferenz von Oktober 1944 (»Prozent-Abkommen«) - im Stich ließ und damit letztlich einer blutrünstigen Obristendiktatur überließ.

Wenngleich vor 70 Jahren historische Pflöcke eingeschlagen wurden, war der weitere Weg in Blockkonfrontation, Rüstungswettlauf, CIA-Putsche und Stellvertreterkriege, stalinistische Unmündigkeit, Apartheid und Neokolonialismus nicht endgültig abgesteckt, nicht alternativlos. All das ist nun aber Geschichte. Oder doch nicht?

Gültig ist jedenfalls nach wie vor, bestätigt einmal mehr durch einen Aufreger dieser Tage, was »ND« in der Silvester-Ausgabe 1946 in einem Kommentar auf Seite 1 anmerkte: »Politik und Humor. Gerade das ist uns verloren gegangen. Der gute Humor - nicht weniger die gute Politik! Manche verwickelte Situation wäre weniger verknotet, wenn auch die ›Experten‹ der Politik mehr Leichtigkeit und Esprit - wenigstens zeitweise - aufbringen könnten.« Sodann versprach das Blatt seinen Lesern zur Jahreswende: »Einszweidrei!/Im Sauseschritt/Läuft die Zeit,/Wir laufen mit.« - Dies nun schon sieben Jahrzehnte!

Karlen Vesper, Jahrgang 1959, ist Redakteurin im Feuilleton des »nd«.

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