Was Sarrazin sonst noch so einfällt

Ein Fakten-Check zu den neuesten Thesen des Stichwortgebers der »besorgten Bürger«

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
»Unwissen und Täuschungen« der deutschen Flüchtlingspolitik wolle er entlarven, verspricht Sarrazin in seinem Buch. Das funktioniert schon deshalb nicht, weil der Berufsempörer selbst die meiste Zeit täuscht.

Es ist wieder da. Nach seiner Abrechnung mit Ausländern (Deutschland schafft sich ab), dem Euro (Europa braucht den Euro nicht) und Linken (Der neue Tugendterror) steht seit kurzem wieder ein Thilo Sarrazin an der Spitze der Bestsellerliste (vor Hitlers »Mein Kampf«). In »Wunschdenken: Europa, Währung, Bildung, Einwanderung - warum Politik so häufig scheitert« schreibt Sarrazin nun über so ziemlich alles, was ihm sonst noch einfällt. Vor allem aber über ein wenig überraschendes Thema: die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung. Oder wie Sarrazin es nennt: »der größte Fehler der deutschen Nachkriegspolitik«. »Unwissenheit und Täuschungen über die Wirklichkeit« wirft er der Bundesregierung vor. Doch Unwissenheit und Täuschungen verbreitet Sarrazin in seinem Buch vor allem selbst.

Sarrazins Auflistung von Gründen für das Scheitern der aktuellen Migrations- und Integrationspolitik beginnt 1948. In Deutschland würde es keine »größeren Einwanderungszahlen« geben, »wenn es [das Asylrecht] entsprechend einem ursprünglichen Sinn nur auf Verfolgte angewandt wird, die wegen ihrer aktiven politischen Tätigkeit in Bedrängnis sind«. Diesen »ursprünglichen Sinn« hat es in Deutschland aber nie gegeben. Bevor das Asylrecht 1948 Eingang ins Grundgesetz fand, diskutierte der Parlamentarische Rat zwar darüber, nur Oppositionellen aus der Sowjetischen Besatzungszone Asyl zu gewähren. Letztlich entschied er sich aber dagegen und für die uneingeschränkte Formulierung, die bis heute im Grundgesetz steht: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«

Dass die Flüchtlingszahlen seitdem und vor allem im vergangenen Jahr deutlich angestiegen sind, ist nicht zu bestreiten. Der Frage, wie viele es genau sind, widmet sich Sarrazin in seinem Buch immer wieder - und täuscht seine Leser erneut. An mehreren Stellen erwähnt Sarrazin die Zahl von 1,1 Millionen Flüchtlingen oder wie er es stets formuliert »Flüchtlinge und illegale Einwanderer«. Hätte Sarrazin sein Buch im Dezember 2015 veröffentlicht, man hätte ihm keinen Vorwurf machen können. Im Februar allerdings gab die Bundesregierung bekannt, dass von diesen 1,1 Millionen nur 600 000 Menschen in Deutschland blieben. Alle anderen reisten weiter, zurück oder wurden versehentlich doppelt registriert. Sarrazin bleibt dennoch bei der Millionen-Zahl.

Aber auch Menschen, die tatsächlich und legal nach Deutschland kamen, dienen Sarrazin als Beleg dafür, dass Integration nur scheitern kann. EU-Bürger hätten in Deutschland »grundsätzlich vom ersten Tag an Anspruch auf alle nach dem nationalen Recht einschlägigen Sozialleistungen. Das hat zu einem erheblichen Sozialleistungstourismus nach Deutschland vor allem von Roma aus Rumänien und Bulgarien geführt«, schreibt Sarrazin und täuscht damit gleich doppelt: Denn zum einen haben EuGH und die Bundesregierung das Recht auf Sozialleistungen für EU-Bürger in den letzten Jahren stark eingeschränkt, zum anderen wurde das Klischee vom Armutsmigranten vom Balkan mehrfach widerlegt (u.a. durch eine Untersuchung der Bundesregierung).

Noch schlechter weg kommen bei Sarrazin Flüchtlinge aus dem Nahen Osten: »Allmählich wird offenbar, dass er [der Flüchtlingsstrom] sich auch in der Zunahme von Kriminalität niederschlägt«, schreibt Sarrazin sinngemäß auch an vielen anderen Stellen. Eine Kriminalstatistik, die seine These untermauert, liefert der Statistiker Sarrazin nicht. Es gibt sie auch nicht. Zwar befasste sich im Februar ein Bericht des BKA mit dem Thema. Dieser traf allerdings nur die offensichtliche Feststellung, dass mehr Flüchtlinge auch mehr Straftaten begehen. Die Aussage, dass Flüchtlinge öfter straffällig werden als Deutsche, wollte der Bericht explizit nicht treffen.

Vielleicht weil er selbst einsehen musste, dass die Flüchtlingsrealität nicht genügend Schreckensszenarien bietet, um ein Buch zu füllen, rechnet Sarrazin schließlich seine eigene Flüchtlingsdystopie herbei: 134 Millionen Flüchtlinge könnten bis 2050 nach Deutschland kommen, rechnet der studierte VWLer vor. Zum Vergleich: die weltweite Flüchtlingsbevölkerung beträgt nur 60 Millionen. Ein paar Zeilen später räumt Sarrazin zwar ein, dass diese 135 Millionen »völlig utopisch« seien, nur aber, um gleich im Anschluss die nächste Zahl zu präsentieren. Nun sind es 23 Millionen Flüchtlinge, die in den nächsten 15 Jahren nach Deutschland kommen. Mit seinen eigenen willkürlichen und falschen Zahlen als Grundlage sieht Sarrazin nur noch eine mögliche Konsequenz: »Es reicht also nicht aus, den Flüchtlingszuzug zu begrenzen, man muss ihn weitestgehend stoppen.« Dass die Flüchtlingszahl mittlerweile tatsächlich auf wenige hundert pro Tag zurückgegangen ist, konnte Sarrazin freilich noch nicht wissen. Dennoch verbirgt sich hier eine der wenigen traurigen Wahrheiten in Sarrazins Buch: Selbst die radikale Forderung von einem der größten Provokateure der Republik wurde von der Realität deutscher Flüchtlingspolitik mittlerweile eingeholt.

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