Vom Verlust der Mitte

Das DOK.fest München zeigt eindringliche Bilder zu Krieg und Flucht in Syrien

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.
Es gilt als eines der größten Dokumentarfilmfestivals Europas. Auf dem Dok.fest München laufen 151 Filme aus 42 Ländern. Darunter Filme aus Krisengebieten wie Syrien, die den Schrecken des Krieges abbilden.

Wie lebt es sich als menschlicher Schutzschild an einem Kriegsschauplatz, der einmal Heimat war, festgehalten vom Regime, um eine potenzielle Einmarschschneise dichtzumachen? Wie lebt es sich beim ständigen Lärm der Angriffe, wenn man nicht weg kann, obwohl die Koffer im Flur stehen und man sich endlich doch zur Flucht entschlossen hatte? Und wie lebt es sich damit, gar nicht weg zu wollen, aber am Ende doch wohl gehen zu müssen?

Damit, die geliebte Bibliothek zurücklassen zu sollen, weil es keine Wege gibt, sie mitzunehmen? Die Bücher zu verpacken, nur um sie wieder auszupacken, dann noch einmal in Kisten zu stapeln und gut sichtbar als Bücherkisten auszuweisen, damit potenzielle Plünderer, sollten die Bücher denn die Bombardements überstehen, nicht Haushalts- oder Wertgegenstände in den gepackten Kisten vermuten und sie sinnlos zerstören. Wie lebt es sich damit, wenn der Krieg immer näher rückt und ein Ende in immer weitere Ferne? Wenn drum herum schon niemand mehr wohnt, ein Fenster nach dem anderen dunkel wird und Lebensmittel zusehends knapper?

Es sind Skype-Gespräche und Handy-Aufnahmen, das wacklige Bild von Amateur-Reportagen, von Privatmitschnitten und ganz viel essayistischem Kino, mit dem die syrische Filmemacherin Liwaa Yazji in »Haunted« die Alltagserfahrung ihrer Damaszener Mitbürger schildert. Gespräche mit Menschen in den Vorstädten von Damaskus, die in ihren Wohnung ausharren, gefilmt in den Jahren 2012 und 2013. Andere haben die Flucht bereits hinter sich, sitzen in Libanon im Exil, physisch erst mal sicher, und sind auf andere Weise unbehaust. Was sie aufgeben mussten, ist ihnen gegenwärtiger als das, was sie zur Zeit umgibt. Die Wohnung, die sie fluchtartig verließen, ohne noch einmal zurückzuschauen, und mit der alle materiellen Erinnerungen an die besseren Zeiten, das eigene Leben, an Familie und Freunde und einen nicht vom Krieg zerfetzten Alltag unwiederbringlich verloren gingen.

Vor der Flucht steht die Angst, nach der Flucht kommt die Trauer. Um die Kaffeetasse, die man einst vom Vater geschenkt bekam. Um die Bücher, deren Inhalt das eigene Selbst ausmachen. Um die Fotos, die von anderen Zeiten zeugen. Um die täglichen Gesten, die täglichen Wege, das Wandern des Lichts durch die Zimmer. Um die Blumen auf dem Balkon, den kleinen Laden an der Ecke. Um Alltag und Routine und die Gemeinschaft mit Nachbarn und Freunden. Um das Leben, wie man es kannte. Was geschieht mit der eigenen Identität, wenn man sie nicht mehr täglich um sich hat? Wenn sie sich nicht mehr nachweisen lässt in Briefen und Alben und Lieblingsdingen und Souvenirs?

Auch wer mit dem Leben davonkam, wird nie wieder derselbe sein wie vor Krieg und Flucht. Wer noch da ist, filmt den Zustand der Straßen um die eigene Wohnung - und stellt sie ins Netz, damit die, die schon weg sind, nachsehen können, ob ihr Haus noch steht. Wer weit weg ist, sucht täglich nach diesen Bildern im Netz - und wäre manchmal froh, endlich nur noch Ruinen vorzufinden, damit das bange Warten ein Ende hätte. Der Film zeigt: Man muss im Krieg nicht sterben, um sich wie tot zu fühlen.

Auch die Kinder, die Filmemacher Mani Yassir Benchaleh in libanesischen Unterkünften und improvisierten Flüchtlingslagern nach ihren Kriegs- und Fluchterlebnissen befragte, erzählen im Einstünder »This Is Exile« davon, wie gut das Leben war - und fragen sich, wieso jetzt alles so anders ist. Ihre Familien sind verstreut, ohne Arbeit und Einkünfte, die Kinder selbst verstört, manche auch physisch vom Krieg gezeichnet. Sie plappern nach, was sie an politischen Fetzen von den Eltern hörten, sie bringen die Stationen ihrer Flucht durcheinander, es ist alles zu viel für sie. Rachefantasien haben manche von ihnen: Wer so viel verloren hat, der will doch, dass irgendjemand dafür verantwortlich ist. Ihre Spiele handeln vom Krieg - und man sieht, dass sie wissen, wie so was aussieht. »Das Exil hat uns getötet«, sagt ein kleiner Junge. Wenn es nicht bald ein Ende hat mit Krieg und Flucht, könnte er damit recht behalten.

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