Das humanitäre System ist überfordert

Entwicklungssoziologin Inez Kipfer-Didavi über Erwartungen und Grenzen des Weltgipfels für Humanitäre Hilfe in Istanbul

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Vereinten Nationen sehen die Flüchtlingfrage als »größte humanitäre Krise« der vergangenen Jahrzehnte an. Mit dem erstmalig stattfindenden Weltgipfel für Humanitäre Hilfe am 23. und 24. Mai in 
Istanbul machen sich die Vereinten Nationen mitsamt anderen Akteuren bis hin zu Nichtregierungsorganisationen auf die Suche nach Antworten.

Ist der erste Humanitäre Weltgipfels ein Hilferuf der UNO, dass das humanitäre System vor dem Kollaps steht?
Das humanitäre System ist nicht am Ende, aber deutlich überfordert. Der Bedarf an humanitärer Hilfe hat sich in den vergangenen Jahren vervierfacht, die Hilfe selbst konnte nur verdoppelt werden. Die Schere zwischen Bedarf und der Möglichkeit zu helfen, klafft immer weiter auseinander. Das ist der Hintergrund für die Einberufung des Gipfels durch UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon.

Die Vorbereitungen laufen seit drei Jahren. Neben Regierungsvertretern und Vertretern multilateraler Institutionen wie der UNO sind auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, der Privatwirtschaft und von Betroffenen aus Kriegsregionen beteiligt. Führt diese Vielstimmigkeit eher zur Kakophonie oder zum Einklang?
Die Vorteile dieses partizipativen Ansatzes liegen klar auf der Hand: Humanitäre Hilfe findet bereits lange statt, bevor die internationalen Hilfsorganisationen eintreffen. Vor Ort hilft die Bevölkerung selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die nationalen Regierungen ebenso, das Beispiel Ecuador beim Erdbeben vor einem Monat ist noch frisch in Erinnerung. Und auch die Privatwirtschaft ist als Dienstleister in die humanitäre Hilfe einbezogen. Es ist wichtig, dass alle beteiligten Akteure daran mitarbeiten, das System effizienter und effektiver zu machen. Der Nachteil dieser Vielfalt besteht darin, dass es keine bindende Abschlusserklärung auf diesem Gipfel geben wird, wie es bei Treffen von Staatschefs sonst gemeinhin der Fall ist.

Zur Person

Inez Kipfer-Didavi ist promovierte Entwicklungssoziologin und war seit 2006 Fachbereichsleiterin Afrika bei der Johanniter Auslandshilfe. Dort leitet sie seit Oktober 2016 die Stabsstelle Policy & Liaison. Seit 2015 ist sie Mitglied im Vorstand des Verbandes Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO). Kipfer-Didavi nimmt am ersten Humanitären Weltgipfel in Istanbul teil und koordiniert dort die Positionen von 35 deutschen Hilfsorganisationen.

Keine bindenden Erklärungen. Besteht da nicht die Gefahr von Papiertigern?
Es ist sicher von zentraler Bedeutung, dass nach dem Gipfel ein Monitoring-System gefunden wird, was die Einhaltung der Zusagen und der Selbstverpflichtungen überprüft.

Ärzte ohne Grenzen hat sich am Vorbereitungsprozess lange beteiligt, wird aber nun nicht teilnehmen, weil es in dem Gipfel inzwischen ein Feigenblatt der guten Absichten sieht. Eine berechtigte Kritik?
Selbstverständlich hat Ärzte ohne Grenzen recht mit der Kritik, dass der humanitäre Weltgipfel die eigentlichen Probleme der Kriege, der Missachtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte nicht löst. Zugleich ist nicht auszuschließen, dass sich die eine oder andere Regierung, die Kriegsverbrechen begeht oder eine Ahndung derselben verhindert, mit ihrem humanitärem Engagement beim Weltgipfel schmücken wird. Dieses Problem können die humanitären Akteure jedoch nicht lösen, hier sind die politischen Entscheider gefragt. Die humanitäre Hilfe liest die Scherben auf. Von ihr zu verlangen, dass sie verhindert, dass Geschirr zerschlagen wird, hieße sie überfordern. Das liegt nicht in der Macht der humanitären Akteure. Auch wenn die humanitären Akteure die Hauptprobleme nicht beseitigen können, müssen sie dennoch versuchen, ihre Hilfe besser und effizienter zu machen.

Ban Ki-moon hat in seinem Bericht »Eine Menschheit - geteilte Verantwortung« fünf Kernbereiche benannt, in denen beim Gipfel konkrete Maßnahmen verabredet werden müssten. Sehen Sie eine Hierarchie unter den Kernbereichen oder sehen Sie sie gleichrangig?
Das hängt von der Perspektive ab. Die ersten beiden haben appellativen Charakter, globale Führerschaft, um Konflikte zu vermeiden sowie die Einhaltung der humanitären völkerrechtlichen Bestimmungen. Das sind die wichtigsten politischen Forderungen aus Sicht der UNO. Für uns als humanitäre Hilfsorganisationen ist zusätzlich der dritte Kernbereich sehr wichtig: niemanden zurückzulassen, der unsere Hilfe braucht. Uns geht es darum, die Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir sollten die Hilfe an ihren Bedürfnissen und Prioritäten ausrichten und ihnen keine Hilfe überstülpen, damit sich ihr Leben grundlegend verbessert, wie es der vierte Kernbereich anstrebt. Dafür bedarf es entsprechender Finanzierung: Diese soll im fünften Kernbereich sichergestellt werden. Ohne ausreichende Mittel können die Forderungen nicht umgesetzt werden.

Welche Rolle spielt Deutschland in dem Gesamtkontext? Das Land ist viertgrößter Waffenexporteur der Welt, das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium betonen derweil die Bedeutung von Konfliktprävention. Ein ganz normaler Widerspruch der Realpolitik oder müsste die Bundesregierung entschiedener handeln?
Wir vom entwicklungspolitischen und humanitären Verband VENRO fordern seit Langem eine stärkere Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Ministerien. Wir sind der Auffassung, dass die Globalisierung in ihrer derzeitigen Form fehlgeleitet ist. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu leisten reicht nicht aus, um den Menschen in Krisenregionen und im Globalen Süden generell eine Perspektive auf ein würdiges Leben zu geben. Hier ist gerechter Welthandel gefragt, eine andere Agrarpolitik, die nicht durch Dumpingexporte im Süden Märkte und Existenzen zerstört, aber sicher auch eine schärfere Beschränkung bei den Waffenexporten. Zentral für Handel- und Agrarpolitik ist die EU-Ebene, dort muss Berlin auf entsprechende Weichenstellung drängen.

Welche Erwartungen knüpfen Sie an den Gipfel?
Der Gipfel ist ein Startpunkt, kein Endpunkt. Vorab sind viele wichtige Empfehlungen erarbeitet und Selbstverpflichtungen abgegeben worden. Diese gilt es in Istanbul zu bekräftigen und danach umzusetzen.

Rechnen Sie damit, dass die Lücke von Bedarf und Finanzierung bei der Humanitären Hilfe kleiner wird?
Da bin ich vorsichtig. Optimistischer bin ich, was die Finanzierungsmodalitäten angeht. Also mehr vorausschauende Finanzierung, längere Projektlaufzeiten, einheitliche Vorgaben für Berichterstattung und mehr Bargeldtransfers statt Sachleistungen. Summa summarum: Ich bin optimistisch, dass Istanbul dazu beiträgt, die Qualität der humanitären Hilfe zu verbessern.

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