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Antike, Islam, Aufklärung

Der Historiker Rolf Bergmeier belegt: Das Schlagwort von der christlich-abendländischen Kultur beruht auf einer Fehldeutung der Geschichte. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir wollen, dass die christlich-abendländische Kultur die Leitkultur bleibt und nicht aufgeht in einem Mischmasch.« Diese Äußerung des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber dürfte nicht nur bei Konservativen viel Zustimmung finden. Auch Menschen, die ansonsten mit rechter Politik nichts am Hut haben, verbinden mit dem Wort von der christlich-abendländischen Kultur Errungenschaften wie Toleranz, Demokratie, geistige Freiheit, Rechtssicherheit. Und sie sind der Meinung, dass Europa all dies hauptsächlich dem Christentum verdanke.

Der Historiker Rolf Bergmeier widerspricht hier entschieden: »Das Christentum ist in der europäischen Gesellschaft verwurzelt. Doch das bedeutet keineswegs, dass diese christliche Wurzeln hat.« Nicht in Bethlehem stand die Wiege der abendländischen Kultur, sondern im antiken Athen. Hier wurde Europa zum ersten Mal geboren. Hier trennte sich die Philosophie von der Religion, hier entfaltete sich das freie, nicht an Autoritäten gebundene Denken. Von den alten Griechen stammt die Idee der Demokratie, die Alphabetschrift, der rationale Dialog. »Seither umweht uns täglich der Duft der Antike und der Geist der Kritik«, so Bergmeier, der in seinem Buch »Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende« die Geschichte Europas aus einer Perspektive schildert, die andere Historiker wohlweislich aussparen.

Obwohl das antike Rom Griechenland unterwarf, hielt es die griechische Kultur in hohen Ehren. Das Imperium Romanum schuf eine neue Rechtsordnung. Zahlreiche Bürger lernten Lesen und Schreiben. Es herrschte religiöse Toleranz, was angesichts der vielen verehrten Götter im Römischen Reich dem inneren Frieden diente. Selbst germanische Gottheiten bekamen ihre Tempel. Man mag nun mit Recht einwenden, dass das antike Griechenland und das antike Rom Sklavenhaltergesellschaften waren, die zahlreiche Kriege führten und häufig despotisch regiert wurden. Und dennoch. »Kultur und Zivilisation beharrten auf einem Niveau, von dem spätere Generationen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nur träumen konnten«, schreibt Bergmeier.

Als Kaiser Theodosius im Jahr 380 das Christentum zur Staatsreligion erhob, veränderte sich das geistige Klima in Europa grundlegend. Aus einer Ansammlung von Gemeinden ging innerhalb weniger Jahrhunderte eine hierarchisch geordnete Kirche hervor, in der die urchristliche Ethik, namentlich die Nächstenliebe, vor allem Stoff für Sonntagsreden war. Der Sieg des Monotheismus über den Polytheismus bedeutete überdies das Ende der religiösen Toleranz. Alle, die sich nicht der offiziellen Trinitätslehre der katholischen Kirche anschlossen, wurden verdammt und verfolgt. Philosophie und Wissenschaft, zwei Prunkstücke der antiken Kultur, fielen der Verachtung anheim. »Selig der Mann, der nicht von dem Gift der Griechen gekostet hat«, schrieb im 4. Jahrhundert der syrische Kirchenlehrer Ephräm. Andere christliche Würdenträger taten gleich die ganze Philosophie als »Irrwahn« ab und bezeichneten die Wissenschaft als »nichtigste Windbeutelei«.

Die katholische Kirche formte die Gesellschaft streng nach dem Bilde ihrer Religion. Bergmeier scheut sich nicht, hier von einem »christlichen Salafismus« zu sprechen, der sich damals in Europa breitgemacht habe. Weite Teile des kulturellen Lebens verödeten. Schulen wurden geschlossen ebenso wie Bibliotheken und Akademien. Nur die gelehrten Mönche in den Klöstern fühlten sich der Bewahrung des antiken Erbes verpflichtet. Allerdings verfolgten sie damit gewöhnlich das Ziel, den christlichen Glauben zu stärken. Und auch die viel gerühmte Bildungsreform Karls des Großen war in erster Linie darauf gerichtet, dem angehenden Klerus das Lesen der »heiligen« Schriften zu ermöglichen. An der Bildung des Volkes, das weitgehend aus Analphabeten bestand, zeigten die christlichen Herrscher kein Interesse.

Die zweite Geburt Europas wurde von außen angestoßen. Die wichtigsten Impulse hierbei kamen von der arabisch-islamischen Kultur, die dem in Schmutz und Unbildung versunkenen Abendland auf geistigem Gebiet inzwischen weit vorausgeeilt war. In Bagdad, Damaskus und im spanischen al-Andalus blühten die Wissenschaften: Mathematik, Astronomie, Medizin. Im Vergleich zur Heilkunst arabischer Ärzte sei die aus Theologie und Mystik gespeiste christliche Klostermedizin recht dürftig gewesen, meint Bergmeier. Islamische Gelehrte übersetzten wichtige Werke aus dem Griechischen ins Arabische, von so bedeutenden Autoren wie Euklid, Archimedes, Aristoteles und Ptolemäus. Zum Glück für Europa gelangte das von der katholischen Kirche für nutzlos befundene antike Wissen in die großen Bibliotheken der muslimischen Welt, die bisweilen mehrere hunderttausend Bücher umfassten. Was die alten Griechen, aber auch die Perser und Inder an Erkenntnissen hinterlassen hatten, wurde von Muslimen nicht selten kritisch hinterfragt und weiterentwickelt. Als Beispiel sei das auf der Ziffer Null beruhende indisch-arabische Zahlensystem genannt, das Leonardo da Pisa erst im 13. Jahrhundert nach Mitteleuropa brachte.

In der frühen islamischen Welt entstanden vielerorts öffentliche Schulen, in denen auch Kinder aus weniger begüterten Familien zumindest eine Grundbildung erhielten. »Bildung war damals so verbreitet«, schreibt der US-Historiker Elmer H. Wilds, »dass es hieß, es sei schwierig, einen Muslim zu finden, der nicht lesen und schreiben könne.« Im 11. Jahrhundert jedoch verlor die islamische Kultur an Dynamik. Auf dem Weg zum religiösen Heil galten weltliche Erkenntnisse fortan als eher hinderlich. In Europa indes führte die Auseinandersetzung mit dem aus dem islamischen Kulturraum importierten Wissen letzt᠆lich zu einer Zeitenwende. Vorreiter war Italien, dessen südlichster Teil 250 Jahre zum muslimischen Herrschaftsgebiet gehört hatte. In Florenz und anderen italienischen Städten nahm die Renaissance ihren Ausgang. Der Geist des Bürgertums erwachte, Wirtschaft und Handel gaben der Gesellschaft neuen Schwung. Der Frühkapitalismus förderte nicht nur den Warenaustausch, sondern auch den Austausch von Ideen, die sich langsam über den Kontinent verbreiteten.

Gleichwohl war die Freiheit des Denkens noch immer eingeschränkt, selbst an den neu gegründeten Universitäten. Nach wie vor wütete die Inquisition, wurden Hexen verbrannt und Bücher per Dekret verboten. Dann jedoch erschien eine Bewegung auf der historischen Bühne, der es gelang, die Macht und Deutungshoheit der Kirche erfolgreich zu erschüttern: die Aufklärung. Sie leitete die dritte Geburt Europas ein. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, forderte Immanuel Kant 1784. Fünf Jahre später brach die Französische Revolution aus. Heute bilden (wenn auch mit Abstrichen) die Prinzipien der Aufklärung das moralische Gerüst Europas und nicht, wie oft behauptet wird, die religiös geprägten Zehn Gebote der Bibel, deren erstes lautet: »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Dagegen heißt es im Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.« Mit diesen Worten begann eine neue Epoche, in der nicht die Hoffnung auf Erlösung, sondern der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit die Welt nachhaltig verändert hat.

Rolf Bergmeier: Christlich-abendländische Kultur - eine Legende. Über die antiken Wurzeln, den verkannten arabischen Beitrag und die Verklärung der Klosterkultur. Alibri, 238 S., 16,99 €.

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