Ein Kunststück - das Leben

Hermann Kant: Ein großer deutscher Schriftsteller wird 90

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein strenges Spiel«, so hat er das Buch von 2015 genannt, das er in einem Vorspruch als sein letztes bezeichnet. Denn die Augen erlauben es nicht mehr, dass er schreibt. Seinen Fernseher ließ er sich aus dem Zimmer räumen. Das befindet sich jetzt in einem Heim für betreutes Wohnen in Neustrelitz. Aus seinem Haus in Prälank beschloss er auszuziehen. Zu groß die Gefahr, dort nachts hinzufallen, wie unlängst geschehen, und da lag er bis zum Morgen, ehe er Hilfe herbeigerufen hat.

Ich weiß nicht, ob Hermann Kant dafür ist, dass ich das ausplaudere. Er möchte anderen als starker Mensch gegenübertreten, der er ja auch ist. Aber seine Leser fragen immer wieder, wie es ihm so geht, ob er immer noch allein wohnen würde, dort, wo sich nur ein Zimmer heizen lässt. Und er selbst ist doch auch ein Mensch voller Mitgefühl, erkundigt sich nach meinem Befinden und unterlässt es nie, Grüße an meinen Mann und meinen inzwischen 91-jährigen Vater zu bestellen.

Wer ihn in früheren Zeiten, als Präsident des DDR-Schriftstellerverbands, vielleicht als arrogant erlebte, der kannte ihn wohl nicht gut genug. Es war eine Schutzschicht. Wem er vertraute, das sagen alle, die ihm näher kamen, der konnte sich in voller Sicherheit auf ihn verlassen. Doch Vertrauen - ein Roman von Anna Seghers, Kants Vorgängerin im Amte, hieß bekanntlich so - war für einen Verbandspräsidenten so eine Sache. Er stand zwischen Baum und Borke. Die Obrigkeit erwartete, dass er ihr Sachwalter sei, denn es handelte sich ja um einen hierarchisch strukturierten Staat; zusätzlich zur Bedrohung von außen wurde dauernd eine von innen befürchtet. Die Schriftstellerkollegen indes verlangten, dass er ihre Interessen auch gegen die Obrigkeit vertrat.

Kant hat den Schriftstellerverband zu einer starken Berufsorganisation geformt, die ihren Mitgliedern soziale Absicherung bis hin zur Altersversorgung gewährte, hat für Papierkontingent und Auflagen gestritten - und er hat mit seinem Verband Einspruch in gesellschaftliche Angelegenheiten beansprucht. Wo gab es das anderswo in der DDR, dass etwa ein Minister auf einem Kongress zur Stellungnahme bezüglich Umweltfragen veranlasst und abgeklatscht wurde, weil er sich mit Phrasen begnügte. Auch wenn Kant auf Kongressen mitunter neben Honecker saß, oft war er missliebig bei der Macht. Und manche der Kollegen waren unzufrieden mit ihm, zumal jeder für sich selbst auf Vorteil aus war und auf Beachtung. Dass die einen im Westen veröffentlichten und dort für Lesungen Geld bekamen, andere aber nicht, das führte zu Neid und Intrigen, von denen der Ausschluss von neun Autoren aus dem Verband 1979 im Roten Rathaus die schlimmste war.

»Hermann Kant, das sage ich jetzt ausdrücklich, ist in diesen Strudel hineingerissen worden und hatte keine andere Möglichkeit, sich zu verhalten, als er es tat«, so Gisela Steineckert, damals Mitglied im Vorstand des Bezirksverbandes Berlin, im Gesprächsbuch »Das Leben hat was«. »Die Drohung, die Präsidentschaft niederzulegen, fruchtete nicht mehr. Die Loest-Publikation hat er auf diese Weise erzwungen«, zitierte sie den Sekretär des ZK Kurt Hager, »aber wenn Kant uns das Amt noch einmal anbietet, nehmen wir es ihm ab. In diesem Clinch war er ohne Chance. Und bedenke: Von denen, die da aus dem Verband ausgeschlossen wurden, waren einige schon über Jahre nicht mehr zu Versammlungen erschienen und hatten auch keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlt. Da hieß es dann auch seitens der Parteiführung, wieso die noch Mitglieder sind. Da hieß es, dass man so einen Verein auch ganz auflösen kann.« Schnee von gestern. Aber er brennt dem Manne immer noch. Andere zogen die Fäden, er ließ sich verstricken und hadert seitdem damit.

Soll man zum 90. Geburtstag nicht lieber fremde Vorwürfe beiseite lassen und an sein bleibendes literarisches Werk erinnern? Aber das Politische und das Literarische - beides gehört zum Kunststück Leben von Hermann Kant. Beides war ihm ernst und doch auch ein immer wieder mit Lust und Mühe, aber vor allem doch wohl mit Lust, geübter Balanceakt. Da war ihm wohl ein Ehrgeiz in die Wiege gelegt. Wenn schon ein schmächtiges Kerlchen, dann wenigstens schlau. Wenn schon als Sohn eines Straßenfegers nicht auf dem Gymnasium, dann wenigstens die ganze Klasse zum Lachen bringen. Trotz paarte sich mit Mut, auf Eigenem zu bestehen. Wie er im Warschauer Kriegsgefangenlager auf einen Schemel stieg und seinen Mitgefangenen, die bloß noch nach Hause wollten, von gemeinsamer Schuld sprach, die abzutragen ist, hat, im Nachhinein betrachtet, dann manches in seinem Leben vorbestimmt. Mit der Gründung eines Antifa-Komitees im Lager, aus freien Stücken und zunächst illegal, wurde er später zum »Kader«. Sechs Wochen im Krieg und vier Jahre Gefangenschaft, danach Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Greifswald, wo er gleich in die Parteileitung kam. »Publizist« schrieb er als Berufswunsch in den Fragebogen. »Warum nicht Journalist«, fragte ich ihn. »Publizist stellte ich mir freier vor.«

Ein Filmmanuskript für die DEFA war Begründung für die Aufnahme in den Schriftstellerverband und die Freiberuflichkeit. Aus freien Stücken beim Aufbau der neuen Gesellschaft mittun und sich dabei die Freiheit nehmen zu etwas Eigenem, das so nicht vorgesehen war - das war das Kunststück, das Entschlusskraft, ja Mut voraussetzte und nicht zuletzt jene Sprachmächtigkeit, die auch Hermann Kants Literatur eine ganz eigene Prägung gibt.

Literatur müsse »stutzen machen«, verführen »zu gedanklichen Ausritten weitab von den Bahnen des Her- und auch des Zukömmlichen«, hieß es schon in der Erzählung »Gold«, 1962 im Band »Ein bißchen Südsee« veröffentlicht. Einen doppelten Boden hatte dann auch »Die Aula«, sein erster Roman, den er noch »ganz unbefangen« schrieb. Bei folgenden Werken änderte sich das, wurde immer ausgiebiger am Text geschliffen. So formte sich Kants unnachahmlicher Schreibstil, diese gewitzte Sprachartistik, die dem Leser immer wieder gedankliche Salti abverlangt, bis aufs Äußerste verdichtete Reflexion, der Jens Jessen in der »Zeit« die Etiketten »federnde Bosheit« und »rumpelstilzchenhafte Vergnügtheit« aufklebte.

»Die Aula«: Hermann Kants wohl erfolgreichstes Werk. Den Anstoß hat tatsächlich ein ABF-Jubiläum gegeben, aber es haben sich nicht nur Absolventen der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten darin wiedergefunden. Es wurde ein Buch für die Vielen, denen die DDR vorher nie geahnte Bildungs- und Aufstiegschancen eröffnet hatte, ein Buch des emanzipatorischen Aufbruchs. Aber nicht als Apologie, sondern, wie gesagt, mit doppeltem Boden. Es gab da einen ironischen Ton, den die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, sehr wohl bemerkte und sich zunächst dagegen sträubte, den Roman als Schulstoff zuzulassen. Über Errungenschaften machte man doch keine Witze. Leser konnten sich auch fragen, was vom Enthusiasmus der frühen DDR-Jahre geblieben war.

»Der Aufenthalt«: Kants wichtigster Roman. Wie der Kriegsgefangene Mark Niebuhr sich zunächst als Opfer einer Ungerechtigkeit empfindet - im Laufe der Handlung ist ja tatsächlich eine falsche Beschuldigung aufzuklären -, dann aber Stück für Stück zum Bewusstsein seiner Mitverantwortung für diesen Krieg kommt, das ist eine geistige Entwicklung, die manche Deutsche noch längst nicht vollzogen haben. Davon erzählt Hermann Kant in einem Ton, der nichts Klagendes und schon gar nichts Belehrendes hat, eindringlich, mitreißend, so, dass man sich beim Lesen in diesen jungen Mann hineinversetzen kann.

Ein Großwerk sozusagen. Aber auch die kleinen Kunststückchen sind nicht zu unterschätzen. Zu seinen verschmitzt hintergründigen Erzählungen aus den Bänden »Eine Übertretung« (1975), »Der dritte Nagel« (1981) und »Bronzezeit« (1985) hat der Autor sogar eine besondere Liebe. Wer in der DDR gelebt hat, spürt die satirischen Spitzen und kann sich nur wundern, wie solche Texte damals überhaupt veröffentlicht werden konnten.

Acht weitere Bücher von Hermann Kant sind nach 1990 im Aufbau Verlag erschienen, darunter der Erinnerungsband »Abspann« (1991), der spannungs- und in manchem geheimnisvolle Roman »Okarina« (2002) und schließlich »Kennung« (2010) ein groteskes Spiel um Freiheitswillen und Verstrickung in einem Staat, der alles kontrollieren wollte.

Bezüge zu Selbsterlebtem stellen sich in allen Werken her, wie aber aus diesem Material ein Kunstwerk wird, liegt in des Autors Vermögen. Da gab es in seinem letzten Buch eine besondere Herausforderung, handelt es doch im Krankenhaus. Eine literarische Widerstandsleistung der Phantasie gegen die Ohnmacht, des Geistes gegen den kranken Körper - denn dieser beschädigte Mechanismus, den die Ärzte zu reparieren versuchen, birgt das von ihnen Nichterfassbare: ein ganzes Leben mit seinen Erfahrungen, seinen verhohlenen Ängsten und Bitternissen - und einer Tapferkeit, an der festzuhalten ist bis zuletzt. »Ein Vorteil des Schreibers: Weil er so gut wie alles allen anderen voran sich selber erzählt, war ich, als mich die Apparate umstellten, gegen deren Vormundschaft gewappnet. Ausgestattet zumindest. Wollte ich mich nicht auf meinen Stationärssta-tus einlassen, konnte ich detailverzückt bedenken, wie ich zu ihm gekommen war. Ich hatte, was brauchte ich mehr, Elemente einer Geschichte.«

Eine Festveranstaltung für Hermann Kant findet an diesem Dienstag, dem 14. Juni, 18 Uhr, im Theater Neustrelitz statt.

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