Jo Cox stand für ein soziales Europa

Ein Opfer, ein Mörder und eine vergiftete politische Atmosphäre in Großbritannien

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Mord an der 41-jährigen Abgeordneten Labour-Abgeordneten Jo Cox wirft einen großen Schatten auf die am Donnerstag anstehendeAbstimmung über den Brexit.

Sie hatte ein klares linkes politisches Profil: die Labour-Abgeordnete Jo Cox. Vor ihrer Wahl 2015 zur Abgeordneten ihres Heimatwahlkreises Batley bei Leeds war Cox Europa-Chefin der gemeinnützigen Oxfam-Organisation und hatte den Labour-Premier Gordon Brown und dessen konservativen Tory-Nachfolger David Cameron in ihrer Absicht bestärkt, die britischen Entwicklungshilfezahlungen auf das von der UNO geforderte Niveau von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen beziehungsweise vor den sonst rabiaten Tory-Kürzungen zu schützen. Sie hat auch Afghanistan und Darfur bereist und sich im Parlament vehement für syrische Flüchtlinge eingesetzt, die Aufnahme von mehr unbegleiteten Kindern aus dem Elendslager bei Calais gefordert. Eine 1,50 Meter kleine Kämpferin für die Sache der Menschlichkeit, weit über ihre Partei hinaus geschätzt, die einen Ehemann und zwei Kleinkinder hinterlässt.

Seit 1994, als der Labour-Chef John Smith einem Herzinfarkt erlag, war der Verlust dieses »Jungstars« (BBC-Reporterin Laura Kuenssberg) der größte Schock für Britanniens Politiker: eine Woche vor der entscheidenden EU-Volksabstimmung ruhen für anderthalb Tage die erbitterten Auseinandersetzungen.

Die Polizei hat den 52-jährigen Tommy Mair aus dem Dorf Birstall, der angeblich an psychischen Störungen leidet, als mutmaßlichen Täter festgenommen. Die geistigen Hintermänner hingegen bleiben auf freiem Fuß. Etwa Nigel Farage, der dem entscheidungsschwachen Premier Cameron die EU-Volksabstimmung aufzwang. Ein in überregionalen Zeitungen in dieser Woche abgebildetes Plakat zeigt eine endlose Schlange angeblich in Britannien Einlass verlangender Migranten. Tatsächlich waren es Flüchtlinge aus Syrien an der slowenischen Grenze, von denen ein Großteil kein Interesse am Aufenthalt in England hat, aber das hindert die Brexiteers nicht daran, eine »Grenze der Belastbarkeit« mit einem Schuldigen zu konstatieren: »Die EU hat uns alle im Stich gelassen.« »Übernehmt wieder die Kontrolle« lautet landauf, landab die Parole des Justizministers Michael Gove, »Wir schicken pro Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel«, prangt auf der Seite vom Sonderbus des früheren Londoner Oberbürgermeisters und Möchtegern-Nachfolgers von Cameron, Boris de Pfeffel Johnson. Lüge: Die Nettozahlungen betragen wegen »Maggie Thatchers Rabatt« sowie Rückzahlungen an britische Bauern sowie für Infrastrukturprojekte weit weniger als die Hälfte. Aber 47 Prozent der Befragten einer Ipsos-MORI-Umfrage glauben Johnsons überhöhten Zahlen.

Und gerade frühere Labour-Stammwähler in Nordengland, wo Cox ihrem Attentäter zum Opfer fiel, gehen den Vote-Leave-Leuten, denen die zur Stimmabgabe für den Austritt - den Brexit - aufrufen, auf den Leim. 45 Prozent beispielsweise glauben an einen baldigen EU-Beitritt der Türkei, nach dem 75 Millionen Türken sofort die weißen Klippen von Dover überfallen würden. Vor allem aber: Die Austeritätspolitik, die auf dem Rücken der Armen und Arbeitslosen ausgetragen wird, stammt weder aus Brüssel noch aus Frankfurt, sondern aus dem Amtssitz des Premiers. Die Migranten sind daran ganz unschuldig, aber als Sündenbock für viele in der Rechtspresse willkommen. Auch deswegen führt Vote Leave in den vier neuesten Umfragen mit Mehrheiten von sechs und sieben Prozent. Ob die Besinnungspause nach dem Tod von Jo Cox zu besseren Einsichten verhilft, ist fraglich.

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