»We don't give a shit about the European Commission«

Rotterdam: Europas größter Tiefwasserhafen

  • Florian Wilde
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Hafen

Rotterdam ist der größte Tiefwasserhafen Europas und der neuntgrößte der Welt (von den 20 größten Häfen der Welt liegen 14 in China, darunter auch die sieben Erstplatzierten). 90.000 Arbeitsplätze gibt es hier immer noch direkt am Hafen, 200.000 weitere sind indirekt an den Hafen gebunden. Rotterdam selbst hat 800.000 Einwohner.

Mit dem Bus fahren wir zunächst vom Stadtzentrum mit seiner weltstädtischen Skyline mehr als 50 Kilometer hinaus zum vollautomatisierten und neu dem Meer abgerungenen Containerhafen Maasvlakte2. Auf dem Weg ziehen schier endlos Raffinerien, Silos und Abfertigungsterminals an uns vorbei. Güter aus aller Welt - Schüttgut, Stückgut, Nassgut, Trockengut - werden hier umgeschlagen, Trimodal, versteht sich. Auf der so genannten Betonlinie etwa fährt ein Güterschnellzug direkt vom Rotterdamer Hafen ins Ruhrgebiet. Oder es wird auf die zahlreichen Binnenschiffe umgeschlagen und natürlich auf LKWs.

Maasvlakte2 hat allerdings den Anspruch, ein CO2-neutraler Hafen zu sein. Alte LKWs zahlen hier hohe Umweltgebühren. Kaum ein Mensch arbeitet noch an den vielen dutzend Containerbrücken, die Steuerung findet vom Büro aus mit dem Joystick statt. In der zweiten Staffel von »The Wire« bezeichnet der Chef der Hafenarbeiter-Gewerkschaft Baltimores daher einen Werbefilm über Maasflakte2 gegenüber seinen Kollegen als »Horrorfilm«, der das Ende ihres Berufsstandes ankündige. Die Hafenrundfahrt mit dem Bus, bei der wir viel Autobahn und kaum je Wasser sehen, verschafft uns zwar nicht so viele sinnliche Eindrücke und Fotomotive als eine Hafenrundfahrt mit dem Schiff, aber der Eindruck, dass dieser Hafen gigantisch ist und zudem ein riesiges Industriegebiet, v.a. für Petrochemie, zumindest ist sehr stark.

Dockers Pride

Nach der Hafenrundfahrt treffen wir uns mit Gewerkschaftern und Hafenarbeitern (Dockers) der Gewerkschaft FNV. Die vier Genossen führen uns zuerst durch das noch nicht automatisierte Uniport City-Terminal in Stadtnähe, in dem sie arbeiten oder aktiv sind. Anschließend kommen wir für einen Vortrag und Diskussion mit ihnen zusammen.

Die FNV-Leute atmen einen Geist, den wir bei den Kollegen der deutschen Gewerkschaften nicht immer angetroffen haben. Wenn unsere ver.di-Gesprächspartner - Betriebsräte wie Sekretäre - von »wir« sprechen, meinen sie i.d.R. das Unternehmen, das den Hafen betreibt. Wenn die FNV-Kollegen von »wir« sprechen, meinen sie ihre Gewerkschaft. Der Vortrag zeigt nicht nur ein auf Recherche und systematischer politischer Bildung beruhendes, tiefes Verständnis der industriellen Beziehungen in Häfen, sondern auch der strategischen Bedeutung von gewerkschaftlicher Organisierung in multinationalen Konzernen. Hierin scheint die FNV, die auch der internationalen Transportarbeiter-Gewerkschaft (International Transport Federation, ITF) angehört, recht erfolgreich zu sein: Siebzig bis achtzig Prozent der Arbeitenden in den weitläufigen Rotterdamer Hafenanlagen sind, laut Niek Stam von der FVN, gewerkschaftlich organisiert.

Niek Stam und seine Kollegen vertrauen auf diese Kraft sowie die der Kollegen in anderen Häfen und nicht in Parlamente oder Regierungen. Kein Wunder, haben FNV/ITF doch die beiden neoliberalen Großangriffe der EU-Kommission auf die Häfen (Port-Package 1+2) mit wilden Streiks und militanten Demonstrationen erfolgreich zurückgeschlagen. Dies sind nahezu einzigartige Erfolge gegen das EUropa der Banken und Konzerne, von denen die gesamte internationale Gewerkschaftsbewegung lernen könnte: FNV/ITF haben ein europaweites Bündnis aus Hafengewerkschaften geschlossen. Die Grundlage: wenn die Hafenbetreiber oder Reeder bei Tarifverhandlungen Lohnsenkungen in einem europäischen Hafen fordern, müssen diese Verhandlungen durch die betreffende Gewerkschaft sofort abgebrochen werden. Das Motto: »Keine Gespräche über Lohnsenkungen, denn ein Angriff auf die Arbeiter in einem Hafen ist ein Angriff auf die Arbeiter in allen Häfen!«

Dieser Internationalismus über Branchengrenzen hinweg hat Tradition: Während des britischen Bergarbeiterstreiks 1984 blockierten die Hafenarbeiter in Rotterdam erfolgreich viele Kohlelieferungen nach England.

Dennoch sehen sich auch die Kollegen der FNV mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Automatisierung und Abbau von Arbeitskräften bedeutet weniger Geld für die Gewerkschaft; viele junge Arbeitnehmer haben kein Bewusstsein für gewerkschaftliche Organisierung und Traditionen; die Überkapazitäten im Containerhandel schwächen die strategische Macht der Gewerkschaft.

Die internationale Transportarbeitergewerkschaft ITF

Rotterdam ist der Geburtsort der ITF. Sie wurde 1896 gegründet, als Seeleute sich weigerten, einen Streik der Rotterdamer Hafenarbeiter zu brechen. Hamadi Amadou, ITF-Sekretär für die deutschen Ostsee-Häfen, der sich unserer Reisegruppe in Duisburg angeschlossen hatte, bringt das Motto der ITF auf den Punkt: »Dockers organize Seafarers - and Seafarers organize Dockers!«.

Wenn Amadou ein Schiff kontrolliert und feststellt, dass die Tarifverträge nicht eingehalten werden, oder wenn ein Schiff ohne Tarifvertrag einen seiner Häfen anlaufen will, fordert er den Eigner auf, für die Einhaltung des Vertrags zu sorgen oder einen zu unterzeichnen. Andernfalls versucht Amadou einen Boykott des Schiffes durch die Hafenarbeiter im Hafen zu veranlassen. Und falls die Kräfte dafür nicht ausreichen, benachrichtigt er die ITF, die dafür sorgt, dass das Schiff im nächsten Hafen, den es anläuft, von den Hafenarbeitern boykottiert, also die Ladung nicht gelöscht, wird. Denn jede Stunde im Hafen zusätzlich kostet den Eigner viel Geld. Dieses System funktioniert natürlich nur in Häfen, die gewerkschaftlich organisiert sind und in denen die Hafenarbeiter bereit sind, solidarisch mit den Seeleuten zu agieren. Tatsächlich gibt es immer noch viele Häfen mit starken Gewerkschaften, und so konnte die die ITF in der Handelsschifffahrt, einer der globalisiertesten Branchen der Welt, Tarifverträge für 8.000 der insgesamt 25.000 ausgeflaggten, also unter Billigflagge fahrenden Schiffe, abschließen. Die ITF ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass gewerkschaftliche Organisierung entlang globaler Wertschöpfungsketten trotz schwierigster Bedingungen möglich ist.

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