Wundersame Selbstzerpflückung

Noch einmal zurück, um wieder im Hier anzukommen: René Polleschs neue Uraufführung im Autokino bei Stuttgart

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 4 Min.
Eigentlich erwartet man an diesem Ort eher Popcornknusperer, Cineasten oder jung Verliebte. Jetzt aber bespielt der eigenwillige René Pollesch mit »Stadion der Weltjugend« ein Autokino mit seinem wilden Diskurstheater.

Es mutet schon etwas verwunschen an, gegen 21.15 Uhr auf einen abgelegenen Parkplatz in Kornwestheim bei Stuttgart zu fahren, um dort auf eines der letzten Relikte der Filmkultur zu treffen: das Autokino. Vor einem ragt eine breite Leinwand, dahinter Zypressen und Sonnenuntergang. Jenseits der rund siebzig Fahrzeuge ein Diner mit rot bepolsterten Thekenstühlen. Ob Pommes, Burger oder Cola - wonach sich der Liebhaber amerikanischen Fastfoods sehnt, hier wird er fündig.

Nur eines ist an diesem nostalgischen Ort aus einer anderen Epoche anders als erwartet: Statt Herzschmerzschinken wie »Vom Winde verweht« oder Schwarz-weiß-Thrillern wie »Der dritte Mann« ist für wenige Tage alles live. Denn der gefeierte Theatermacher René Pollesch hat diesen Ort als Kulisse seiner neuen Uraufführung »Weltstadion der Jugend« gewählt. Würde man hier eigentlich Popcornknusperer, Cineasten oder einfach jung Verliebte in der letzten Wagenreihe, der sogenannten »Love Lane«, erwarten, trifft man nun auf schickes Theaterpublikum und nicht zuletzt auf ein Kammerensemble, das unentwegt sein eigenes Spiel reflektiert. Sommerfrische und Intellektuellenstimmung. Und nicht zuletzt menschliche Abgründe, die sich vor der Leinwand abspielen, wo ein Kamerateam die fünf Akteure dieses Stückes - neben dem Tatort-Kommissar Martin Wuttke sind das Manuel Harder, Abak Safaei-Rad, Christian Schneeweiß und Julischka Eichel - filmt.

Wer die Aufführungen des aufgeweckten Theaterphilosophen Pollesch kennt, weiß, dass es darin in ironischem Timbre stets ums Ganze geht, die großen Fragen, großen Kritiken an Kapitalismus, Rassismus und Ungerechtigkeit - aber vor allem um den Menschen selbst. Nachdem das Quintett - wie sollte es anders sein? - direkt mit dem Auto eingefahren ist, setzt der Redefluss im Fahrzeug ein. Gleich einem Sturzbach bricht aus Frank (Martin Wuttke) - einer Drama Queen, wie sie im Buche steht - die Frage nach der eigenen Identität als Mann und Schauspieler heraus. Er, der als der »größte Frauendarsteller des 17. Jahrhunderts« reüssierte, überlegt, wo die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen verlaufen. Während die fünf im Laufe der Inszenierung immer wieder die Plätze im Wagen tauschen, teils übereinander klettern oder in unterschiedlicher Kleidung auftreten, kommen allerhand Grundsatzdebatten aufs Tapet: Wie steht es um die Liebesbeziehungen und Ehen der Protagonisten? Was bedeutet es, männlich oder weiblich zu sein? Welchen Stellenwert haben überhaupt Kategorien? Viele philosophische Lichtstreifen blitzen auf der Leinwand auf, von denen man angesichts des überkomplexen Drehbuchs nur Bruchstücke erfassen kann.

Was sich allerdings als roter Faden durch diese wundersame Selbstzerpflückung zieht, ist das Nachdenken über die Fiktion. Immer wieder schauen die Protagonisten auf eine (fiktive) Autokinoleinwand, verweisen auf Figuren und Szenen, die für das Publikum in der Mauerschau verbleiben. Es ist die Rede vom »Pseudovergnügen« des Kinos, von Foucaultschen Heterotopien und allen voran von der heilenden Wirkung des Erzählens und Fantasierens selbst. Wo hingegen, wie eine der Darstellerinnen sagt, das Leben sich nicht verändern will, durchbrechen Formen wie die Filmkunst die Monotonie des Daseins. Sie schaffen Begehren und Singularität. Ihr Ereignischarakter macht das Leben erst lebenswert.

Ja, diese einzigartige, beinahe utopisch unwirkliche Kulisse des Autokinos mitzuerleben, heißt, für kurze Zeit allem enthoben zu sein und in einen Strudel der Fiktion zu geraten. Mehr noch hätte man sich gewünscht, dass Pollesch, jener immerzu frische Berserker des Regietheaters, das gesamte Areal ausgenutzt und sein Ensemble durch die Autoreihen geschickt hätte, also Film in Wirklichkeit hätte übergehen lassen. Immerhin gelingt dieser Coup an zwei Stellen perfekt: Zum einen, als in Anspielung auf David Zuckers Slapstick-Reihe »Die nackte Kanone« die Schauspieler, begleitet von »The Naked Gun«, von einer Polizeisirene gejagt werden, und zum anderen, als vor der Bühne eine riesige Frauenpuppe hochgezogen wird und förmlich in ihre eigene Projektion auf der Leinwand stürzt.

Indem der Regisseur die Diskursschleifen seiner Helden mit solcherlei Bildern bricht, vermittelt er dem Zuschauer ein Gespür für den theatralischen Rahmen. Wie brechtianisch, wie ungemein bildgewaltig! Aber nicht die großen Metaphern bestimmen das Arrangement, sondern die minuziöse Suche nach dem Ich-Sein, nach einem wahrhaftigen Kern in einer Welt, die sich - ob durch Geschlechterstereotype oder Filmnarrative - durch und durch als Konstruktion erweist. Daher ist auch Freuds Psychoanalyse allpräsent und das Fahrzeug Inbegriff des Unbewussten, durch das allerlei ungeordnete Gedankenströme zirkulieren.

So atmosphärisch wie psychologisch dicht kann Kinotheater sein, so rauschhaft wie nachdenklich zugleich. Man lässt sich von einem Werk verführen, das jenseits der wirklichen Welt entsteht und doch in ihr tiefstes Wesen eindringt.

Nächste Vorstellungen: 7., 8., 9. Juli.

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