Reisende, nicht Migrantin

Fanny Kniestedt über ihre Erfahrungen mit dem deutschen Pass jenseits der europäischen Komfortzone

  • Fanny Kniestedt
  • Lesedauer: 4 Min.

Kürzlich hatte ich Geburtstag. Bei solch einem Anlass braucht es einen Wein zum Anstoßen. Da ich momentan in einem muslimischen Land weile, nämlich Marokko, ist es erstens schwer und zweitens teuer Alkohol zu bekommen. Die Lösung: Ich husche mal eben hinüber nach Ceuta, der spanischen Enklave, ungefähr 30 Minuten mit dem Sammeltaxi entfernt. An der Grenze standen Marokkaner meterlang in Schlange. Doch mir wurde ehrfürchtig ein Korridor bereitet. Mit einem anerkennenden Lächeln winkten mich die Grenzbeamten durch.

Ich hätte mich auch angestellt, so ist es ja nicht. Aber selbst die wartenden Marokkaner ließen mich nicht. Ich musste meinem Privileg Folge leisten und an ihnen vorbeigehen. Denn ich bin Inhaberin des mächtigsten Passes der Welt. Mein dunkelrotes Büchlein ist wie eine Goldmedaille, die mir dafür verliehen wurde, dass ich in Deutschland zur Welt kam. Dieses Dokument lässt mich wertvoller sein. Und so werde ich auch behandelt. Ob ich will oder nicht.

Obwohl ich der Ehrengast war, konnte niemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Denn alle Gäste, mit denen ich feiern wollte, haben noch »falschere« Dokumente als jene Marokkaner, die es zumindest bis zu den Grenzbeamten schaffen. Denn sie kommen aus Subsahara-Afrika. Einige von ihnen versuchen seit Jahren eben genau jene Grenze zu überwinden, die ich mittlerweile unzählige Male überschritten habe. Alle saßen schon in einem Schlauchboot oder haben versucht, über die mit NATO-Draht umwickelten Zäune zu klettern. Mehrfach. Sie wurden vom marokkanischen und spanischen Militär niedergeknüppelt oder verhaftet. Sie riskieren ihr Leben. Denn sie heißen »Migranten«. Sie brauchen einen »guten Grund«, um zu uns in den Norden kommen zu »dürfen«. Sie müssen »flüchten«. Aber nicht vor irgendetwas. Ihr Leben muss bedroht sein. Wenn sie ihr Land nicht verlassen, um sich schlicht zu retten, dann benötigen sie ein Führungszeugnis, eine Einladung, eine exorbitante Summe Geld auf ihrem Konto, manchmal sogar einen Sprachtest, um ein Visum zu bekommen. Sie müssen Kriterien erfüllen, die nicht einmal die meisten Europäer erfüllen könnten. Und warum das alles? Weil sie als Risiko gelten. Nicht umsonst fällt die Migrationspolitik unter das Sicherheitsdezernat der Europäischen Union.

Ich hingegen gelte nicht als Migrantin, obwohl ich es per Definition genauso bin wie sie. Mich jedoch nennt man Reisende. Ich bin Kosmopolit. Ich entdecke. Ich brauche für 158 Länder dieser Welt kein Visum. Wenn doch, dann bekomme ich es direkt vor Ort. Will ich irgendwo hin, kaufe ich mir ein Flugticket per App und bezahle mit Kreditkarte.

Reisen ist für mich aber nicht nur von persönlichem Interesse. Es wird von mir als junge Europäerin erwartet, wenn ich einen überzeugenden Lebenslauf vorweisen möchte. Denn, und da sind sich Wissenschaft sowie potenzielle Arbeitgeber einig: Reisen fördert die soziale Kompetenz und erweitert den Horizont. Aber nicht bei allen. Sondern nur bei den »Richtigen«.

Wer die »Richtigen« sind, bestimmen Kriterien, die seit dem 15. Jahrhundert mit der administrativen Konstruktion von Identität geklöppelt werden. Kurz: mit der Erfindung von Identifikationsdokumenten. So verstaubt diese Kriterien sind, so sehr sind sie immer noch Grundlage unserer heutigen Einordnung in »wertvolle« und »wertlose« Dokumente - und damit von Menschen. Denn mit der Kolonialisierung wurden europäische Kriterien exportiert. Ein europäischer Pass für einen Afrikaner bedeutet heute die gleiche Aufwertung seiner Person wie das Erheben in die Staatsbürgerschaft als »zivilisierten«, »richtigen« Menschen zu Kolonialzeiten. Denn er geht, wie damals, mit Privilegien einher. Das größte von allen: die Bewegungsfreiheit.

Wenn ich hier mit meinen Freunden per Mobiltelefon einer globalen Utopie fröne, die in der Werbung des neuen Geräts mit dem Satz »stolzer Unterstützer einer grenzenlosen Welt« besungen wird, dann endet diese mit ihrem Pass. Mein Freund Hussein aus Côte d›Ivoire würde gern mal Venedig sehen. Mein anderer Freund aus Kamerun will mal nach Havanna. Wir sitzen hier, eine Deutsche, ein Ivorer und ein Kameruner in Marokko und reden über die Olympischen Spiele in Brasilien. Wir leben eine globale Realität - die selbstverständlich digital ist -, die von mir erwartet und ihnen letztlich abgesprochen wird.

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