Großes Kino für kleines Geld

In viereinhalb Stunden mit dem Kulturzug von Berlin nach Wroclaw.

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 6 Min.

Schon in Berlin ist in dem Zug jeder Platz besetzt, viele drängen sich zudem in den Gängen. Auch in Cottbus und Forst wird er noch einmal halten, die Chance, dass es dort leerer wird, liegt bei null Prozent. Denn alle haben das gleiche Ziel - sie wollen Wroclaw, Europas Kulturhaupt 2016 besuchen. Sicher, man könnte auch mit einem anderen Zug dorthin fahren, aber dieser ist etwas Besonderes: Es ist ein Kulturzug, der nicht nur so heißt, sondern unterwegs auch jede Menge Kultur bietet. So vergehen die viereinhalb Stunden Fahrzeit wie im Fluge, und außerdem wird man bestens auf das Reiseziel eingestimmt.

Die Idee, Berlin und Wroclaw einen Sommer lang mit einem Kulturzug zu verbinden, ist charmant. Die Tickets sind für 19 Euro (einfache Fahrt) zu haben, egal ob man in Berlin, Cottbus oder Forst einsteigt. Während der viereinhalbstündigen Fahrt ist genug Zeit, den Reiseführer zu studieren, um sich aus der Fülle der Angebote das richtige herauszusuchen. Außerdem finden Lesungen statt, es gibt musikalische Unterhaltung und eine Ausstellung. Gratis dazu hat man den Blick aus dem Fenster auf schöne Landschaften. Mutig versucht sich eine Klezmer-Band, durch die vollen Abteile des Kulturzuges zu drängen, die Reisenden nehmen es sportlich entspannt, machen Platz, um die Musiker durchzulassen. Die Reisenden in den nächsten Waggons danken es ihnen.

Ich freue mich auf die Stadt, mein letzter und einziger Besuch dort liegt schon sehr lange zurück. Es war im November 1979. Die Gewerkschaft Solidarnosz war noch nicht gegründet, das Kriegsrecht galt noch nicht. Und doch war die Krise allgegenwärtig. Die Krise in Polen und die in der staatlichen Beziehung zur DDR. Ich war von polnischen Studenten eingeladen worden, die ich im Sommer zuvor auf einem Zeltplatz an der Ostsee kennengelernt hatte. Neben der Einladung hatten sie mir eine lange Liste mit ihren Wünschen geschickt: Salami sollte ich mitbringen, Zahncreme und Seife. Dafür bekam ich im Tausch Modeschmuck, den ich viele Jahre trug. Damals saß ich als einzige Deutsche im Abteil. Mit mir fuhren polnische Arbeiter, die in der DDR ihr Geld verdienten und am Wochenende die Familien besuchten. Weil sie nur begrenzt Waren aus der DDR ausführen durften, baten sie mich, ihr Gepäck als meines auszugeben. Ihre Familien in Polen brauchten dringend alles, was sie kaufen konnten.

Für eine Stadtbesichtigung waren im November die Bedingungen so ungünstig, wie sie nur sein konnten. Es stürmte und regnete in Wroclaw so heftig, dass ich die meiste Zeit in der Wohnung meiner Gastgeber verbrachte. Damit ich wenigstens einen kleinen Eindruck von der Stadt bekäme, hatten sie mich mit dem Taxi zu zwei Kirchen gefahren. So bekam ich trotz des peitschenden Regens zumindest eine Ahnung davon, dass Wroclaw eine sehr schöne Stadt sein muss. Mehr war damals nicht möglich. Den Wunsch, die Stadt einmal bei schönerem Wetter zu sehen, trug ich seitdem mit mir herum.

Jetzt war ich im August gekommen, und die Stadt empfing mich mit dem schönsten Wetter, das man sich nur denken kann. Wroclaws Bahnhof, den der Kulturzug gegen 13 Uhr erreichte, erinnert an ein Schloss. Allerdings an eines, das sich nicht gerade durch eine königliche Küche auszeichnet. Wer gute polnische Küche den Fastfood-Piroggen oder fettigen Würsten vorzieht, sollte in der historischen Altstadt essen. Dort gibt es für jeden Geschmack und Geldbeutel das Richtige. Gut 20 Minuten zu Fuß braucht man vom Bahnhof dorthin. Oder man nimmt die Straßenbahn, die ist für Inhaber des Kulturzugtickets kostenlos.

Auf dem historischen Marktplatz, dem nach Krakow zweitgrößten Marktplatz Polens, laden im Kulturhauptstadtjahr Stadtführer zu kostenlosen Stadtspaziergängen auf Englisch ein. Man kann die Gruppen nicht übersehen. Eine deutschsprachige Stadtbesichtigung gibt es mit Kleinbahnen - allerdings für den stolzen Preis von 180 Zloty (45 Euro). Der Marktplatz besticht durch sein Flair. An jeder Seite des Rathauses erklingt andere Straßenmusik. Kinder spielen in den zahlreichen Brunnen rund um den Platz. Studenten, und von denen gibt es viele in der sehr jungen Stadt Wroclaw, sitzen auf den Bänken. Restaurants und Straßencafés werben mit bunten Sonnenschirmen um Gäste.

Man sollte sich die Zeit nehmen, das mächtige gotische Rathaus zu umrunden und dabei auf die Details achten. Auf die schönen Bürgerhäuser, von denen manche wirklich sehr schmal sind. Nichtsdestotrotz haben die Bauherren darauf geachtet, dass sie deswegen nicht an Pracht einbüßen. Oder auf die bunte Sonnenuhr am Rathaus, ein echter Blickfang. Oder auf kleine und große Brunnen, manche von ihnen entdeckt man erst auf den zweiten Blick. An der Ostseite des Platzes steht ein zehn Meter hoher Pranger, wo bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein und erneut in den Jahren der Nazi-Herrschaft Menschen angebunden, ausgepeitscht und geköpft wurden. War man früher froh, wenn man dem Folterort nicht zu nah kam, ist der Pranger heute ein Treffpunkt für Verliebte. Sehenswert, und im Übrigen gratis zu besichtigen, ist auch die ständige Ausstellung im Rathaus zur Stadtgeschichte. Zu sehen gibt es die riesige Bürgerhalle, die Gerichtsstube und weitere Ratsräume, neben historischem Rathausmobiliar auch Gemälde von Ratssitzungen aus dem 17. Jahrhundert.

Die Stadtführerin macht auf die vielen in Bronze gegossenen etwa 30 Zentimeter hohen Zwerge aufmerksam, die überall in der Innenstadt zu finden sind. Sie sollen an den Widerstand von Studenten in den 80er Jahren gegen das Kriegsrecht erinnern, als Studenten als Zwerge verkleidet durch die Stadt liefen. »Diese Geschichte sollen die Zwerge an die nächsten Generationen weitererzählen«, sagt sie.

Es ist gar nicht so leicht, im Sommer eine der vielen schönen Kirchen in der historischen Altstadt von innen besichtigen zu können, insbesondere an den Wochenenden. Denn Sommerzeit ist Hochsaison fürs Heiraten. Und während der Hochzeitszeremonie müssen Touristen draußen bleiben. Wie gut, dass ich 1979 wenigstens zwei Kirchen besichtigt habe, denke ich jedes Mal, wenn ich wieder vor einer verschlossenen Kirchentür stehe.

Überall in der Innenstadt gibt es im Kulturhauptstadtjahr Straßenausstellungen. Natürlich ist es unmöglich, an einem Wochenende die gesamte Stadt zu erkunden, aber ein Spaziergang zum Oderufer sollte unbedingt drin sein. Auf der Dominsel beispielsweise gibt es an den Wochenenden zahlreiche Animationen, bei denen immer ein anderer europäischer Staat im Mittelpunkt steht. An meinem Reisetag war es Italien.

Bevor meine Zeit in Wroclaw zuende ging, wollte ich unbedingt noch das 360-Grad-Panorama von Racławice besichtigen, das Szenen des polnisch-russischen Krieges von 1794 naturgetreu nachstellt. Das Panorama ist nicht nur ein Besuchermagnet, weil es wegen des militärischen Sieges über den großen Nachbarn Russland der polnischen nationalen Seele schmeichelt. Sechs Millionen Besucher haben die Ausstellung seit der Wiedereröffnung 1985 bereits besichtigt. Wer es sehen will, sollte Geduld mitbringen. Ich bekam eine Wartemarke, mit der ich erst zweieinhalb Stunden nach dem Kauf Einlass erhielt.

Die Wartezeit lässt sich nahe dem Flussufer aber gut überbrücken. Man kann das nahe volkskundliche Museum mit seinen Außenausstellungen besuchen, shoppen gehen, auf der alten Promenade entlang der Oder flanieren, Bastionen aus der Zeit des Napoleonischen Krieges anschauen oder sich einfach im Park hinter dem Museum sonnen. Selbst für eine Paddeltour auf der Oder wäre Zeit gewesen.

Auf der Rückfahrt nach Berlin erzählen die Leute begeistert von ihren Erlebnissen. Jeder Wochenendtourist hat ein anderes Stück Wroclaw entdeckt, aber alle schwärmen von der Stadt. Viele von der Marc-Chagall-Ausstellung nahe des Rathauses und ich bedaure, die nicht mehr geschafft zu haben.

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