»Von Beginn an waren die Proteste maßlos«

Der ehemalige Vize-Innenminister Boliviens über Bergarbeiterproteste und eine Regierung, die zu lange zuschaute

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach dem Mord an Vize-Innenminister Rodolfo Illanes am 25. August sind die streikenden Genossenschaften in der Defensive. Wie kam es zur Eskalation und ist es derzeit ruhig?
Soweit mir bekannt ist alles ruhig - es gibt keine weiteren Straßenblockaden durch die Genossenschaften, denn die sind durch die Verhaftung ihrer Führung quasi ohne Kopf.

In Boliviens Bergbausektor sind die Genossenschaften der wichtigste Akteur. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist die Folge einer Entwicklung, die etwa 1985 begann. Da standen die Genossenschaften noch im Schatten des staatlichen und transnationalen Bergbaus, bis mit der Wahl von Víctor Paz Estenssoro ein neoliberaler Kurs in La Paz Einzug hielt und die staatlichen Bergbauunternehmen ihre Arbeiter en gros entließen. Viele siedelten sich am Rand der großen Städte unter miserablen Bedingungen an. Es gab auch einige, die am Rande der alten Minen lebten und halblegal weitermachten. Da liegen die Ursprünge des Genossenschaftsaufschwungs.

Zur Person

Rafael Puente Calvo  (77) ist einer der profiliertesten Linken Boliviens. Der Ex-Jesuitenpater und Ex-Abgeordnete lebt nahe der Stadt Cochabamba. Als ehemaliger Vize-Innenminister des Landes verfolgt er die Entwicklung der Bergarbeitergenossenschaften seit Jahren.

Wurden mit steigenden Preisen unrentable Minen wieder aufgemacht?
Genau. Auf diesem Wege entstand ein neuer Minensektor, der formell genossenschaftlich organisiert war. Der Sektor wuchs in den folgenden Jahren und als nach dem Gaskrieg von 2003 in El Alto die sozialen Organisationen an Einfluss gewannen, waren auch die Bergbaugenossenschaften mit von der Partie. Der Grund war, dass sie gut organisiert, schnell zu mobilisieren waren und Dynamit einsetzten, um die Polizei zurückzuschlagen - das hat Eindruck bei den Coca-Bauern gemacht, die Evo Morales in den Präsidentenpalast tragen wollten. Fortan gehörten die Bergbaugenossenschaften zu den Alliierten der Cocaleros.

War nicht auch ein Genossenschaftsvertreter im ersten Kabinett von Evo Morales vertreten, dem auch Sie angehörten?
Der Präsident des Verbandes der Bergbaugenossenschaften Fencomin, Walter Villarroel, wurde zum Bergbauminister erkannt - das war ein Einschnitt und führte dazu, dass der Genossenschaftssektor im Bergbau sprunghaft wuchs. Heute sind fast 120 000 Menschen im genossenschaftlichen Bergbau tätig, viele werden miserabel bezahlt, haben keine Arbeitsrechte und die Umweltstandards spotten jeder Beschreibung. Dem hat die Regierung Morales über Jahre untätig zugesehen, obwohl es mehrere blutige Zusammenstöße gab.

Sind die Kooperativen so etwas wie ein Feigenblatt?
Es sind weitaus eher privatwirtschaftliche Unternehmen, in den Händen von wenigen. Ich kenne nur ein Unternehmen, das die Idee der Genossenschaft in der Realität auch beherzigt. Alle anderen segeln unter falscher Flagge, was viele Vorteile hat. So werden deutlich weniger Steuern bezahlt und den Arbeitern wird das Recht sich zu organisieren vorenthalten. Es gibt oft Arbeitsverhältnisse, die an den Frühkapitalismus erinnern.

Eigentlich untragbar für eine linke Regierung …
Das hat die Regierung auch erkannt. Zudem sind die ökonomischen Schwierigkeiten größer geworden und so hat sich die Regierung entschlossen, ein neues Gesetz für die Kooperativen auf den Weg zu bringen. Damit begannen die Proteste. Das Blockieren von Straßen gehört in Bolivien zu jedem anständigen Protest - und bei Bergleuten auch der Einsatz von Dynamit. Von Beginn an waren die Proteste jedoch maßlos, es wurden Busfahrer gezwungen, auf viertauend Meter Höhe nackt über die Altiplano-Hochebene zu laufen. In Auseinandersetzungen mit der Polizei starben zudem drei Genossen, wodurch das Klima sich weiter aufheizte.

Hat die Regierung dabei taktische Fehler gemacht?
Ja, eindeutig, denn sie hat sich mit den rebellierenden Genossenschaften auf einen Austausch von Gefangenen verständigt - es wurden Polizisten gegen Genossen ausgetauscht. Das hat dafür gesorgt, dass Polizisten entführt worden und die Straflosigkeit Einzug hielt. Ein verheerendes Signal.

Wurde in dieser Atmosphäre der Vizeminister losgeschickt?
Ja, wobei das angeblich der Wunsch von Illanes selbst gewesen ist. Nun gibt es viele Fragen: Weshalb musste Illanes sterben und warum stand er letztlich allein den aufgebrachten Bergleuten gegenüber? Ich glaube, dass es auf Seiten der Bergleute keinerlei Bereitschaft zum Dialog gab, es hat eher den Anschein, als ob sie versucht haben, Maximalforderungen durchzusetzen.

Welche waren das?
Keine Öffnung des Genossenschaftssektors für die Gewerkschaften, die Lieferung von Energie zum Nulltarif durch den Staat sowie die Lockerung der ohnehin laxen Umweltauflagen. Das hat, genauso wie der Mord am Vizeminister, für den Meinungsumschwung gesorgt - die Colectivistas haben nun das ganze Land gegen sich.

Welche Folgen hat die Ermordung von Illanes?
Die Regierung hat den Ton und ihre Aktionen verschärft. Der Einsatz von Dynamit auf Demonstrationen ist nun strikt verboten, alle Konzessionen, die von den Kooperativen nicht genutzt werden, fallen fortan zurück an den Staat und die Gewerkschaftsrechte sollen in dem Sektor durchgesetzt werden. Zudem sind Geschäfte zwischen Kooperativen und privatem Bergbau fortan nicht mehr legal - Hintergrund ist, dass Kooperativen mit privaten Bergbauunternehmen Dreiecksgeschäfte gemacht haben. Die einen zahlen 1,5 Prozent Steuern, die anderen 7 Prozent. Da wird der Staat um einiges an Steuereinnahmen geprellt.

Ist die Fencomin derzeit noch handlungsfähig, gibt es Widerstände?
Nein, die Führungsspitze der Fencomin sitzt im Gefängnis, nur einige wenige werden noch per Haftbefehl gesucht und die Proteste sind abgeebbt.

War es ein Fehler der MAS, der Bewegung zum Sozialismus von Evo Morales, den Genossenschaftssektor zu umarmen und politisch zu vereinnahmen?
Der Versuch ist gescheitert und hat zahlreiche negative Folgen gehabt, wobei ich nicht nur an die massiven Umweltschäden denke.

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