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Glücksstunde des Wolfes

Zum Tod des großartigen Schauspielers Hilmar Thate

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie grinst, die Sau. Schlimmer noch: kumpelt uns regelrecht an. Ein Mörder kumpelt uns an! Dieser Kerl, der an der Rampe sitzt, uns die Beine entgegenbaumelt – da weißt du doch endgültig, was das ist: unverschämt. Hilmar Thate als Richard III. in Manfred Wekwerths legendärer Shakespeare-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin. Über vierzig Jahre her. Richard: ekelhaft – und faszinierend. Thate, fast bittend als Berserker. Eine Sau? Das denkst du – und nimmst es zurück. Der da vorn ist ein Ausgesetzter, und Ausgesetztsein entfacht ungeheure Triebenergien des Willens. Da folgt ein autonomes Subjekt nur den eigenen Gesetzen, jenseits aller Verbindlichkeiten des Sittlichen, der Religion, der Normen.

Thate war Publikums Kumpel wie kein Richard zuvor. Seine Zoten, sein Zorn, seine kecke Zudringlichkeit – ein einziges Zwinkern: Leute, das kennt ihr doch – man muss bloß immer wieder die Gespräche mit dem eigenen Gewissen ausschlagen, und schon wird man sehen, wie schnell man weiter, hoch und noch weiter und noch höher kommt. Im Dienste der Sache. Thates Richard offenbarte bezwingend viel vom Gefühl des gefährdeten Menschen, und plötzlich – angekommen in jener Schande, die er ausheckte – trug er auch viel Gefühl vom Gejagten in sich. Der eine ganze Welt gewinnen wollte und nun allein im Weltall seiner Angst umherirrt.

Unvergesslich auch: »Coriolan« am Berliner Ensemble, Brechts Bearbeitung von Shakespeares Drama. Ekkehard Schall und Hilmar Thate: Coriolan und Aufidius, Feldherren einer mörderischen beidseitigen Egozentrik; der Kampf zweier Heerführer als Kampf zweier großartiger Schauspieler, und die gesamte Aufführung von Wekwerth und Joachim Tenschert: Blick ins Getriebe eines kalt auf Hochtouren getriebenen Motors der Macht. Ein Wurf gegen das Unersetzlichkeitssyndrom der vermeintlich Bedeutsamen; das dröhnt im Grunde noch immer voll und ätzend durch die Zeiten. Atemberaubend. Noch die unübersehbare Didaktik des nachbrechtschen Zeit-Geistes wurde damals eingeschmolzen im Feuer einer betörenden spielerischen Kraft.

Thates darstellerischer Charakter, das war tatsächlich jene erwähnte Unverschämtheit; mit Charme und Übermut bot er Breitseite, er liebte den balladesken Rhythmus einer Geschichte; manchmal schien es, in seinem Brecht-Spiel schlafe ein Wolf: Auf der Bühne durfte er heulen und reißen. Als Givola in »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«: eine schleimende Schlange. Als Jean Cabet in »Die Tage der Commune«: ein hemdsärmliger junger Kommunarde, der sich vom notgedrungen Soldatischen nicht die Lebenslust und die Liebessehnsucht auffressen lässt. Der Galy Galy in »Mann ist Mann«: ein kleiner Bürger wird clownesk zur Kriegsmaschine umfunktioniert – Hoffnung macht Narren, aber Furcht macht Sklaven.

Schauspieler-Arbeit hat in wesentlichen Teilen mit einer wahrhaftigkeitsbesessenen Beobachtungsgabe zu tun. Für Thate bedeutete das, Sinn und Wirkung zusammenzudenken. Den politischen Kontext seines Wirkens – also die DDR, das Maß und die Möglichkeiten der Veränderung – hat er stets sehr wachsam kontrolliert. Und musste Konsequenzen ziehen, um nicht zu verzweifeln – am falschen Durchhalte-Optimismus. Auch er protestierte gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976, und nach der bitteren Erfahrung künstlerischen Boykotts sah er sich mit seiner Frau Angelica Domröse in den Westen gedrängt. Seine Theater fortan: Bochum, Stuttgart, Hamburg, Basel, Wien, Westberlin. Die Regisseure: Zadek, Karge, Langhoff, Bergman, Tabori, Kirchner. Die Rollen, unter anderen: Tartuffe, Titus Andronicus, Sganarelle, Stalin, Mephisto. Filme bei Fassbinder, Brasch, Haneke, Wedel, Schlöndorff.

Das Berliner Ensemble in jener Zeit, da Thate dort noch ein junger, glühender Protagonist war, 1959 bis 1970: Vernunft als Maximum möglicher Sinnlichkeit. Ein schier weltmeisterliches Leben. Maßstabwonne. Kollegen- und Kolleginnenglanz. Diese geradezu unerbittliche Vernünftigkeit als Schule des Denkens. Das BE wie ein Staat im Staate. Der bessere Staat im besserwisserischen Staat. Bis das Besserwissen auch auf dieses Theater überschwappte. Die Brechtschulspeisung. Da ging Thate weg – Deutsches Theater, Volksbühne. Aber noch in seinen spätesten Jahren machte der Schauspieler den Eindruck, als sei er mit seinen Ursprüngen (zu denen auch Filme von Konrad Wolf, Kurt Maetzig, Gerhard Klein gehörten) niemals fertig geworden. Als hätte er damit nie fertig werden wollen. Ursprünge, die größer gewesen sind, als die DDR je zu sein vermochte.

Geboren wurde er 1931 in Döhlau bei Halle. Der Vater war Maschinenschlosser. »Ich bin mein Leben lang stolz gewesen, so ’ne kleene Leute als Eltern gehabt zu haben. Meine soziale Wurzel besaß immer Kraft.« Die Mutter arbeitete in der Landwirtschaft, rührte Schweinefutter, sie weinte bitterlich, als der Sohn Schauspieler werden wollte. Sie dachte, er würde bei den Gauklern verrückt werden oder ein Zuhälter. Am Theater der Freundschaft, am Gorki-Theater wurde man kein Zuhälter. Thate wurde ein Energiebündel, das mit Aura Raum füllte, aber Widerspruchsleere um sich herum nicht ertrug.

Wenn er wirklich gut ist, kommt der Schauspieler nie in einer anderen Haut an. Er steigt in ein Kostüm und ist nackt. Er schlüpft in eine Maske und wird sichtbar. Hilmar Thate, dieser wunderbar dunkel- und wuchtstimmige Spieler und Sänger, der Brechtsongs schattenweich oder mit düster brennendem Hohn, mit geiler Boshaftigkeit oder hellster Schärfe gab, so zart wie schwungvoll – er wehrte sich im Spiel stets gegen ziselierende Ausmalerei, er ging Trieben nach, um sich als Rebell gegen sie zu stählen. Und: Er besaß eine fordernde Präsenz, ob er Katajew oder Goethe spielte; noch wo seine Gestalten sich im Selbstnebel verkrochen und verfinsterten, hatten sie etwas Hervordrängendes. Damals mit großer Resonanz: seine TV-Helden. Sein ruppig rebellischer Bauer »Daniel Druskat« (neben Manfred Krug und Ursula Karusseit), sein kauzig-wehmütiger Novemberrevolutionär in Horst Seemanns »Fleur Lafontaine« (die Titelrolle gespielt von Angelica Domröse), sein von Feminismus übertölpelter Sowjetsoldat Gleb Tschumalow in Wekwerths Mehrteiler »Zement« nach Gladkow.

Er war grandios plebejisch; so wie die Engel auf den Bildern, da sie mit den Teufeln kämpfen müssen, plötzlich Blitze sprühen und mit einer heftigen Fleischlichkeit über die Bösen fallen, so konnte sich Thate vom brabbelnd gütigen, sich brummig wiegenden Jungsgemüt ins wild Elementare steigern. Bei Andreas Kleinert spielte er im Film »Wege in die Nacht«: Ein Ex-Genosse sieht nach dem Ende der DDR rot – die neue Freiheit als Gefahr, der Bürgerwehrgedanke als letzte Mission, Ordnung wiederherzustellen.

Über gegenwärtiges Theater sagte er vor vier Jahren im nd-Interview: Viele Spieler hätten ein Fragezeichen überm Bauch, und gestellt werde auch nur eine einzige Bauchfrage – die aber keineswegs abendfüllend sei: Wer bin ich? »Die Grundfrage, ja, aber doch bitte schön in Beziehung zur Welt, zu deren Gefährlichkeit, zu deren sozialen Verwerfungen, zu deren Kriegen.« Einem heiteren Melancholiker saß ich gegenüber. Seine Enttäuschungen trug er mit Würde, weil er wusste, was er sich wert war. »König im Niemandland« hat ihn die Autorin Kerstin Decker genannt.

Was einer sagt, erzählt immer auch davon, wovon er zu schweigen vermag. Was einer an Angeboten ablehnt, sagt etwas aus über die wahren Wünsche – den Lockruf für einen »Tatort«-Kommissar zum Beispiel ließ er abprallen. Wie einer nach vorn jagt, bildet den Charakter. Und in der Art des Rückzugs zeigt der sich. Diese weise Wucht, diese sture Aufmüpfigkeit bis in die Haarwirbel hinein – ich hätte Hilmar Thate so sehr den Lear gewünscht. Am 14. September ist dieser faszinierende Schauspieler im Alter von 85 Jahren gestorben.

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