Sehnsucht nach Mauern

In Italien sinkt das Vertrauen in Europa und Rufe nach sicheren Außengrenzen werden laut

  • Wolf H. Wagner, Florenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Gerade eben erst sprachen sich die Tessiner für eine Einschränkung des kleinen Grenzverkehrs und damit die Eindämmung des Arbeitspendelns zwischen Italien und dem Kanton in der Südschweiz aus. Tritt die nach der Volksbefragung gewünschte Regelung in Kraft, sind 62 000 italienische Lohnabhängige betroffen. Mit dem Entscheid erregen die Schweizer in Italien ebenso Unmut wie die Österreicher, die ein neues Grenzregime am Brenner errichten wollten.

Nun mehren sich jedoch auch in Italien die Stimmen, die sich auf einen stärkeren Nationalstaat berufen wollen. Getreu dem Motto: Versagt uns die EU ihre Solidarität, dann sind auch wir nicht mehr bereit, uns freizügig zu öffnen. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demos zufolge stimmen 83 Prozent der Italiener für verschärfte Kontrollen an den Grenzübergängen. Dabei ist die »Nostalgie für alte Mauern« - wie die Tageszeitung »La Repubblica« das Umfrageergebnis wertete - nicht nur bei rechten und konservativen Parteien, sondern auch im Mitte-Links-Spektrum vorhanden.

Rom sieht derzeit einen frustrierten Regierungschef. Matteo Renzi (Partito Democratico, PD) ist enttäuscht, dass er nicht zum Gipfel Angela Merkels, des französischen Präsidenten François Hollandes und des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker nach Berlin eingeladen wurde. Wiederholt hatte sich Renzi für eine flexiblere Politik Brüssels ausgesprochen - mehr Hilfen und weniger Sparprogramme. Dies stieß vor allem in Berlin auf Ablehnung. Zugleich sieht sich Italien jedoch mit der Flüchtlingssituation allein gelassen. Die anfängliche, vor allem von Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte Bereitschaft, Italien und Griechenland von der Problematik zu entlasten, scheint zu schwinden.

Ebenso schwindet auch das Vertrauen der Italiener in die EU. Bis zur Einführung des Euro sahen 60 Prozent der Bürger Hoffnung in der mit einer gemeinsamen Währung ausgestatteten EU, inzwischen ist die Zustimmung auf 27 Prozent gesunken. Dennoch will die Mehrheit der Italiener in der EU verbleiben, anders als es Matteo Salvini und seine Lega Nord erklären. Und sie wollen auch die gemeinsame Währung behalten, auch wenn Beppe Grillo und die Bewegung 5 Sterne die Rückkehr zur Lira propagieren.

Auf der anderen Seite wachsen jedoch die Befürchtungen, die steigenden Flüchtlingszahlen könnten die Lage im Lande destabilisieren. Dazu kommt eine von den Anschlägen in Frankreich, Belgien und Deutschland geschürte Angst vor Terrorismus. Bestätigt zu werden scheint die durch diverse Festnahmen und Ausweisungen extremer Islamisten sowie vom Kidnapping zweier italienischer Ingenieure in Libyen erst in diesem Monat.

Europa muss sichere Außengrenzen haben, so die Meinung der Befragten. Andernfalls müssen die Grenzen des eigenen Staates gesichert werden. 48 Prozent sprachen sich für die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen aus, weitere 35 Prozent für Kontrollen in besonderen Umständen. Nur 15 Prozent stimmten für die uneingeschränkte Beibehaltung der freizügigen Schengen-Regeln. Insbesondere 72 Prozent der Lega-Anhänger und 68 Prozent der Wähler von Forza Italia forderten stärkere Kontrollen. Doch auch PD- und Linken-Wähler stimmten zu je 38 Prozent für Einschränkungen der Freizügigkeit.

So sind in Italien Tendenzen zu beobachten, wie man sie bislang nur von den Briten, Dänen oder den Osteuropäern kannte. Die Unionsbewahrer in Brüssel, Berlin und Paris werden sich etwas einfallen lassen müssen, wollen sie dem Trend zurück zur Mauer entgegentreten.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal