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Große Lehrstunde in Demokratie

In Polen treffen die Nationalkonservativen Jaroslaw Kaczyńskis auf wachsenden Widerstand

  • Holger Politt, Warschau
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit einem Jahr wird an der Weichsel tüchtig Maß genommen. Auch Warschau soll ein Kleid wie in Budapest verpasst werden. So wollen es Jarosław Kaczyński und Gefolgsleute. Nur der Angriff zählt, das seit 1989 Gewachsene - so versprechen und drohen sie gleichermaßen - solle auf den Prüfstand.

Wie ein Geschenk des Himmels wurde vor einem Jahr die absolute Mehrheit der Parlamentssitze quittiert. Soviel Macht hatte im neuen Polen noch niemand. Selbst die sogenannte Verfassungsmehrheit von zwei Dritteln der Parlamentssitze schien ihnen nur eine Frage der Zeit zu sein. Zwar verschob Kaczyński dieses ehrgeizige Ziel auf künftige Legislaturperioden, doch der mächtige Eindruck blieb: Da wird nicht gekleckert, da wird geklotzt. Allerdings wachsen in Warschau die Bäume nicht in den Himmel.

Nach den ersten, schnell durch die Instanzen gejagten Gesetzesänderungen mobilisierte die Opposition - auf den Straßen und Plätzen des Landes. Noch im tiefen Winter ging es da in breiter Öffentlichkeit um die geltende Verfassung und um die sensible Frage, ob die direkte Kontrolle öffentlich-rechtlicher Medien durch die Regierung die Meinungsfreiheit verletze. Auslöser waren ein nationales Mediengesetz und die Blockierung des Verfassungstribunals.

Alsbald folgte der nächste Akt im Spektakel. Die Wende 1989/90 wurde als verratene Revolution hingestellt, weil die Verantwortlichen für den »Kommunismus« in Polen nicht nur mit heiler Haut davongekommen seien, sondern auch anschließend maßgeblich über die Geschicke des Landes entschieden hätten.

Als Anführer all der Verräter wurde die »Solidarność«-Legende Lech Wałesa ausgemacht. Polens staatliche Geschichtsbehörde, das Institut für Nationales Gedenken (IPN), an deren strikt antikommunistischer Gesinnung auch zu früheren Zeiten nie der geringste Zweifel aufgekommen war, übernahm nun das Geschäft, Wałesa vom Sockel zu stoßen, um Platz für einen anderen Helden zu machen.

Beim Absturz einer polnischen Regierungsmaschine während des Landeanfluges auf Smolensk am 10. April 2010 bei dichtem Nebel wurden alle 96 Insassen getötet. Der dabei ebenfalls ums Leben gekommene Staatspräsident Lech Kaczyński sei der untadelige Held der »Solidarność«-Zeit, heißt es jetzt bei den Nationalkonservativen, was auch der tragische Tod unterstreiche, denn standhaft und unerschrocken sei er in Smolensk auf seinem Posten gefallen.

Ins Unsinnige gesteigert wurde schließlich der Kult um die »ausgeschlossenen Untergrundkämpfer«, die nach der Befreiung Polens 1945/46 im Verborgenen und widerständig ausgeharrt hatten. Denn sie waren fest von einem bevorstehenden dritten Weltkrieg zwischen den Siegermächten ausgegangen.

Es nützte nichts, die Menschen gingen in Polen auch im Frühjahr in Scharen auf die Straße - um die Demokratie zu verteidigen und gegen die Regierung zu protestieren. Ursprünglich hatte Kaczyński tatsächlich angenommen, es werde ihm leichtfallen, nötigenfalls Hunderttausende Anhänger zu mobilisieren, um auch im öffentlichen Raum herauszustellen, wer die Macht im Lande habe. Das war einer der Gründe, weshalb er schnell von der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit zu träumen anfing. Der sechste Jahrestag der Flugzeugkatastrophe von Smolensk sollte endlich ein Fanal setzen - allein aus dem vollmundig angekündigten Marsch der Millionen wurde nichts.

So blieb Kaczyński der überraschende Ausgang des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der EU, um wenigstens einmal in der Öffentlichkeit demonstrativ über die politischen Gegner triumphieren zu können. Er nahm die bisherigen Proteste aufs Korn, die sich von Anbeginn entschieden unter das Blau der EU-Flagge gestellt hatten, um freimütig zu erklären, nicht er, sondern Leute wie EU-Ratspräsident Donald Tusk oder EU-Parlamentschef Martin Schulz würden den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden. Werde der bisherige Weg der EU-Integration fortgesetzt, zerbreche die Union. Der einzige Ausweg sei der Weg, wie ihn Ungarn und nun Polen zu gehen suchten - ein lockerer Verbund souveräner Vaterländer. Prompt folgte die Forderung, die Europäische Union neu zu gründen.

Wirtschaftspolitisch goss es Kaczyński in die griffige Formel einer zweiten Welle des Kapitalismus, die das Land benötige - einer polnischen. Der bisherige Weg seit 1989/90 habe vor allem das Auslandskapital unverhältnismäßig stark begünstigt, das polnische habe sich nicht im gleichen Maß entfalten und entwickeln können. Grundlage der neuen polnischen Welle kapitalistischer Entwicklung sollen vier Bereiche sein, in denen einheimisches Kapital wieder Fuß fassen und sich durchsetzen müsse: im Energiesektor, im Bankensektor, im Bereich der Medien und im Einzelhandel. Vorbildlich seien diesbezüglich die ungarischen Anstrengungen, die zeigten, wie das Programm einer Nationalisierung der Wirtschaft durch eine nationalkonservative Regierung erfolgreich und konsequent verfolgt werden könne.

Um diesen Plänen Nachdruck zu verleihen, wurde zu Herbstbeginn die Regierung umgebildet. Der Finanzminister wurde geschasst und das Finanzministerium gleich ganz in die Verantwortung des Wirtschaftsministers überführt. Mateusz Morawiecki ist nun gleichermaßen Minister für Entwicklung, wie das Wirtschaftsministerium offiziell heißt, und für die Finanzen, auch wenn die beiden Ministerien formal nicht zusammengelegt wurden. Zugleich ist Morawiecki Stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender des Wirtschaftskomitees beim Ministerrat - eine Aufgabenfülle, die anderswo in diesen Breiten undenkbar wäre.

Nicht wenige Beobachter werten Kaczyńskis gewagten Schritt bereits als eine Flucht nach vorne, als einen versuchten Befreiungsakt, weil das auf die Stärkung der nationalen Identität und den Schutz der nationalen Gemeinschaft abgerichtete Programm nicht recht von der Stelle komme. Da Kaczyński selbst nicht die Rolle des Ministerpräsidenten übernehmen wolle, sondern lieber vom bescheidenen Parteisitz aus die Geschicke des Landes lenke, habe er diese eigenwillige Regierungsumbildung forciert.

Dabei fällt allerdings auf, dass Morawiecki auf dem Felde der wirtschaftlichen Verflechtung des Landes mit den anderen EU-Mitgliedern die Kirche im Dorf stehen lassen muss. Der bisherige seit 2004 eingeschlagene Weg wird von ihm durchaus gelobt und als Voraussetzung gewürdigt für alle weitere Entwicklung. Das sind völlig andere Töne als sie Kaczyński ansonsten anzuschlagen beliebt.

Doch die größte Niederlage seit Oktober 2015 musste Kaczyński auf einem Felde einstecken, auf welchem er sich ausreichend gewappnet glaubte. Bereits im März 2016 hatte Ministerpräsidentin Beata Szydło unmissverständlich verkündet, sie sei Katholikin und trete deshalb für ein völliges Abtreibungsverbot ein. Gezielt wurde gegen die bestehende, ohnehin bereits restriktive Regelung aus dem Jahre 1993, die den meisten in Polen als ein Kompromiss gilt.

Bis zum Regierungsantritt der Kaczyński-Partei verlief die Scheidelinie zwischen den konservativen Kräften und deren Gegnern in der Abtreibungsfrage immer entlang der Frage, ob eine Liberalisierung wünschenswert oder gar durchsetzbar sei. Anders gesagt, die bestehende Regelung galt auf der konservativen Seite durchaus als ein hinzunehmender Kompromiss, da angesichts des bestehenden Kräfteverhältnisses in konservativer Richtung kein weiterer Raumgewinn zu erwarten war.

In der Praxis schlug sich seit 2007 das Regierungslager aus Wirtschaftsliberalen der Bürgerplattform (PO) und moderater Bauernpartei PSL in der Abtreibungsfrage stets auf die Seite der Konservativen - sobald nämlich die Gefahr liberaler Positionen gewittert wurde. Das im Konkordat mit dem Vatikan niedergeschriebene Privileg der katholischen Kirche, in allen Fragen der sogenannten öffentlichen Moral »mitsprechen« zu können, funktionierte verlässlich.

Weshalb die Kaczyński-Partei hier nun aktuellen Druck erzeugte, so als ob der gordische Knoten endlich zerschlagen werden könne, bleibt ein Rätsel. Vielen Beobachtern war klar, dass es auf diesem sensiblen Gebiet politisch wenig zu gewinnen, dafür viel zu verlieren gibt. Als die Parlamentsfraktion auf Anweisung Kaczyńskis und ohne Not entschied, den Entwurf eines vollständigen Abtreibungsverbots bei Androhung von Strafe auch für die betreffenden Frauen durch die Instanzen zu schicken, erschütterte eine neue Welle öffentlichen Protestes das Land.

Am 3. Oktober wurde von einem breiteren Bündnis betroffener Frauen ein Solidaritäts-Streik der Frauen ausgerufen, der in einem öffentlichen Protest schwarz gekleideter Frauen gegen die Regierungspläne gipfelte. Ausmaß und Entschiedenheit der Proteste vor allem junger Frauen überraschte das Regierungslager völlig. Kaczyński blieb nichts anderes übrig, als die Entscheidung der Vorwoche postwendend zurückzunehmen - das vollständige Abtreibungsverbot verschwand vom Tisch. Es war das erste Mal, dass öffentlicher Protest die Nationalkonservativen zum Nachgeben zwang.

Zugleich elektrisierten die Frauenproteste zu einem großen Teil junge Menschen, die im letzten Jahr aus unterschiedlichen Gründen gar nicht erst zur Wahl gegangen waren. Jetzt haben sie sich mutig entschieden - öffentlich und gegen die Regierung. Insofern werden auf absehbare Zeit auch Veränderungen im Wahlverhalten der jüngeren Wählerschichten, die im Herbst 2015 - so sie zur Wahlurne gegangen waren - mehrheitlich nationalkonservativ bzw. rechtspopulistisch gewählt hatten, nicht ausbleiben.

Noch sitzt Jarosław Kaczyński fest im Sattel, vor allem im eigenen Stall. Dennoch hat er dem Land in den zurückliegenden zwölf Monaten zweifelsohne und gegen den eigenen Willen eines beschert: Eine große Lehrstunde in Demokratie. Das Kleid aus Budapest scheint Warschau nicht zu passen - den nationalkonservativen Schneidermeistern zum Trotz.

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