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Memento mori

Anneke Brassinga pflegt einen elegischen Ton

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen« - es ist einer der berühmtesten und wohl wahrhaftigsten Verse aus Rainer Maria Rilkes erster Duineser Elegie. Sobald die Schönheit ihre volle Blüte erreicht, erwartet sie das Vergehen. Diese durchaus barocke Weltsicht ist Anneke Brassingas neuem Gedichtband gänzlich zu eigen. Ein Apfel reift und schrumpelt zusammen, Musik erwärmt uns und verklingt.


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* Anneke Brassinga: Fata Morgana, dürste nach uns! A. d. Niederl. v. Ira Wilhelm. Matthes & Seitz. 160 S., geb., 20 €.


»Alles, was Liebe ist, gehört aufgehoben«, heißt es im Gedicht »Konserve«. In der Tat vermag Poesie, das Abwesende anwesend werden zu lassen. Als wären alle Grenzen zwischen Dies- und Jenseits aufgehoben, führt das Ich Gespräche mit Verstorbenen, die unter der Erde liegen und die hallenden Schritte vernehmen. Und sogar »ein Bruchteil des Jenseits war ich und verstand,/ dass nur in diesem Schreck ich dir so nah sein kann/ in einem gottsjämmerlich verlassnen Einander-Gehenlassen«.

Das Gedicht ermöglicht, wie Orpheus in die Unterwelt einzutauchen, den Verlorenen nahe zu sein.

Bassingas Memento mori ist ein weltumspannendes, wirkend und mahnend in jedem Ding. Der Raum verschmilzt dabei ganz mit dem Ich. Venedig am Morgen verleibt sich das Ich buchstäblich ein: »ich beugte, ganz langsam geflügelt, / mich liebevoll über den Sonnenaufgang in der Tiefe«. In Roms antiken Bauten schimmern Bruchstücke und Trümmer eigenen Lebens auf.

Ob in elegischem Weh-Ton oder in lapidarer Ironie - die Lyrik der 1948 in den Niederlanden geborenen Autorin beherrscht die gesamte Tonleiter der Vergänglichkeit, all deren Abstufungen und Verlustmomente. Wer um die letzte große Frage des Lebens kreist, kann sich allerdings auch übernehmen. Wenn etwa von der »sanftfeurige[n] Sonnenverheerung regenbogengekrönt« die Rede ist, spürt man einen Schwulst, der auch anderswo in diesem ansonsten überzeugenden, von echtem Sentiment geprägten Band anzutreffen ist.

Die Todesgedichte sind bewegend und traurig. Hier allerdings nur Resignation und Untergangsstimmung zu vermuten, griffe zu kurz. Vielmehr schwingt im noch so Düsteren immer auch eine Bejahung des Daseins. Selbst aus Ruinen steigt »der Urstoff, / dem blinde Kräfte wie auch den Göttern innewohnen«. Sprechen ist stets ein Heraufbeschwören, ein Erwecken. Indem vom Tod gesprochen wird, verliert er bei Brassinga seine verheerende Totalität. Er ist einfach Teil eines Kontinuums, ohne Angst und Unbehagen.

Obgleich die Lektüre durch die Jammertäler unserer Existenz führt, hinterlässt sie ein erbauliches Gefühl. Ein unaufdringliches, durch und durch spirituelles Buch!

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