Schimmelmenschen in Sexshops

Peter Richters »89/90«, Lutz Seilers »Kruso« und Till Müller-Klugs »Der Minusmensch« am Schauspiel Leipzig

  • Mathias Schulze
  • Lesedauer: 5 Min.

Theatralische Zeitreisen. Das aktuelle Spielzeit-Motto am Schauspiel Leipzig gibt es vor: »Woher Wohin«. Und die Interpunktionen? Frage- und Ausrufezeichen, sachliche Punkte, Zwischentöne, Hoffnungen und Abgründe darf jeder selbst setzen. Zeige mir die Vergangenheit, die das politische Heute vermittelt! Doppelperspektiven auf Schlüsselmomente: Da gibt es die großen Produktionen, Regisseurin Claudia Bauer hat sich Peter Richters »89/90«, Armin Petras hat sich Lutz Seilers »Kruso« vorgenommen.

Im Zentrum bei Bauer? Der Chor, die Masse, die die Individuen auf Spurensuche mit billigen Formeln verschlingt. Wenzel Banneyer als Ich-Erzähler P., der im Hinterzimmer von einer Live-Kamera verfolgt wird: Wie war es damals, als er als 16-Jähriger durch die Ruinen der DDR wankte? Hätte man damals schon sagen können, wer wem einen Baseballschläger über den Kopf prügelt? War es absehbar, wer ein Immobilienvertreter und wer ein Pfandflaschensammler wird? Persönliche Erinnerungen, die von der Lautstärke der Masse gestört und zerhackt werden. P. inmitten des Chores bei Staatsbürgerkunde und FDJ-Versammlung: Da gibt es überall diese folgsamen Kulleraugen, die ihn rasend machen und die ohne ihren Chorleiter nicht singen können.

Anbei, Helmut Kohl (Andreas Dyszewski) schwebt in einem dick aufgeblasenen Anzug durchs abgestandene DDR-Bühnenbild, wüten die Baseballschläger durch die Straßen. P. als Etikettenopfer: »Wir waren die Linken, weil die die Rechten waren.« Kohl hört des Volkes Stimme: »Wir sagen Ja zum Selbstbestimmungsrecht, das allen Völkern dieser Erde gehört - auch den Deutschen.« Und was macht die Masse nach 1989? Die Idee eines demokratischen Sozialismus nimmt sie nicht auf, vielmehr sitzt sie wieder, nun in quietschgelben Anzügen, vor dem Chorleiter, der lediglich sein Jackett ausgezogen und die Lieder gewechselt hat. Nun singen sie: »Freiheit, Freiheit! Selbstbestimmung, Selbstbestimmung! Ficken, Ficken! Fernsehen, Fernsehen!«

Das Individuum L., Bettina Schmidt füllt die Rolle ohne kabarettistische Arroganz, hat Rosa Luxemburg in Hirn und Herz. Im Westen gestrandet, hat sie Grundsatzfragen: »Die Schimmelmenschen stehen jetzt in den Sexshops. Soll das etwa der aufrechte Gang sein?« Zur Strafe wird der Chor lauter: »Schwarz! Rot! Gold!« Der Rest? Antikommunistische Ruten, Verprügeln der linken Feinde, einige Herren, viele Knechte, Gewalt. Am Ende wagt Bauer einen utopischen Ausblick. Der Chorleiter verschwindet. Im Nebel hört man, wie sich die Masse, immer noch geblendet von Versprechungen und Massenarbeitslosigkeit, selbst befragt: »Ich sitze hier und spüre, dass Unheil naht. Bin ich schuldig?« Bauers »89/90«: Das sind wuchtige Bilder und eine glühende Hoffnung in eine bürgerliche Zivilgesellschaft, die laut und beschwingt in den Straßen Fragen stellt.

Einen anderen Rückblick gibt es bei Petras’ »Kruso«. Zuförderst gelingt ein faszinierend sensibles Bühnenbild (Olaf Altmann). Unzählige Perlonfäden sind von der Decke bis zum Boden gespannt. Der Germanistikstudent Ed findet in der DDR, auf Hiddensee, einen Zufluchtsort. Dort trifft er auf Kruso, gespielt von Anja Schneider, die das schauspielerische Kraftzentrum bildet. Kruso und andere Staatskritiker machen das Betriebsferienheim »Zum Klausner« zu einem lebenswerten Raum. Ein Ort, der von den realen Verhältnissen sowohl bedroht als auch überhaupt erst einmal ermöglicht wird. Die Staatsgrenzen sind zugleich Gefängnis und Schutzraum eines gelungenen Miteinanders, das nach 1989 zerbricht.

Eine Metapher für die persönlich gestalteten DDR-Inseln, egal ob Ateliers, Punkproberaumgaragen oder Kirchengemeinden. So wird das Schema »Täter und Widerstandshelden« gesprengt. Magische Inseln inmitten der Geschichte. Manchmal existieren sie nur einen Moment oder einen Sommer lang. Die Perlonfäden und die sorgsamen Lichteffekte lassen die Individuen in utopischen Traumfäden wandeln. Dabei können die Fäden zum atmosphärischen Ostseeregen oder zum schneidenden Draht werden, der die Menschen verletzt.

Sphärische Klänge, ein Live-Schlagzeug und die lyrische Sprache runden ein poetisches Theaterstück ab. Nach dem Zerfall der DDR scheitert »Zum Klausner«, ein radikaler Schlag inmitten der Inszenierung. Kruso und Ed zerbrechen, als sie als Senf - und Ketchup-Tuben verkleidet dem Betriebsferienheim einen Livestyle-Anstrich verpassen wollen. So lässt plakatives kapitalismuskritisches Kabarett die Zeit nach 1989 als gänzlich utopiefeindlich erscheinen.

Eine ähnlich radikale, auch im bühnenbildnerischen Sinne wahrlich eisige, Dystopie entwirft das Stück »Der Minusmensch« von Till Müller-Klug (Regie: Steffen Klewar), das ebenfalls zum »Woher Wohin«-Komplex passt. Eine Business-Frau, schon längst turnt sie nur noch nach der Hymne des freien Wettbewerbs, will ihre Performance nicht durch die Risiken des Zwischenmenschlichen stören lassen. Eine künstliche, eine sorgenfreie Befruchtung muss her. So entstehen Minusmenschen. Das sind Menschen, die noch nicht einmal gezeugt, wohl aber bereits schon kalkuliert und somit ansprechbar sind: »Hallo, mein zukünftiges Kind! Du bist jetzt minus zwei Jahre alt!« Als sich während eines berechneten Familientreffens herausstellt, dass das zukünftige 18-jährige Kind das Wort »Verstaatlichung« in den Mund nimmt, ist Schluss mit Möglichkeitskuscheln: Die Geburt wird im 134 Jahre verschoben!

Am Schauspiel Leipzig flankiert zudem eine kostenfreie, monatliche Gesprächsreihe die gesellschaftlichen Entwicklungen. Hierbei Gregor Gysi, neulich zu Gast, mit Vertrauen in politische Gestaltungskräfte: »Die Union muss in die Opposition, weil sie nur dort die konservativen Kräfte bündeln und so einen wirksamen Beitrag gegen die AfD leisten kann.« Im März 2017 wird unter der Regie von Schauspielintendant Enrico Lübbe »Die Maßnahme« von Brecht und Eisler mit Aischylos »Die Perser« verknüpft. »Woher Wohin«. Man stelle sich vor, das Schauspiel rücke noch die Ökonomie vor und nach 1989 in den Fokus. So könnten die vom Publikum zu füllenden Interpunktionen noch lebhafter werden.

»89/90«: nächste Vorstellung am 3. November; »Kruso«: nächste Vorstellung am 19. November; »Der Minusmensch«: nächste Vorstellung am 3. November. Am 20. November sprechen Hans Vorländer und Oliver Nachtwey zum Thema: »Bröckelt die Verständigung? Die Gesellschaft der Empörten«.

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