Don Carlos in Badehose

»Pfusch« - ein letzter Abend von Herbert Fritsch an Berlins Volksbühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die philosophischen wie politischen Systeme unterscheidet weniger, wie sie Probleme lösen, sondern wie sie Problemen entfliehen - also: alles Pfusch. Und als Freiheit gilt heute, dass eine Vielzahl von Herren dem Volk erlaubt, leicht von einem zu anderen zu wechseln - sie ist ebenfalls nur Pfusch, diese Demokratie. Zudem hat der moderne Mensch die Nachfolge Christi durch die Parodie Gottes ersetzt - das nennt sich Aufklärung, ist aber auch bloß Pfusch.

Herbert Fritsch inszenierte an Berlins Volksbühne - im eigenen Bühnenbild: dem weiten Nichts - einen musikalisch-choreografischen Abend, den er »Pfusch« nannte. Ist schon groß, wie dieser Regisseur im Antisinn-Glamour seiner bunten Bizarrbilderbögen in sich selber ruht, wie er reinen Spaß betreibt und dann doch plötzlich, manchmal in winzigsten absurden Körpersprachbildern, die ganze Traurigkeit und Wurschtigkeit menschlicher Existenz aufleuchten, eindunkeln lässt.

»Lasst uns in die Röhre schauen!«, so lautet einer der wenigen Sätze des Abends. Und also schauen alle dreizehn Tobe- und Trippelfiguren in die Röhre. Was ja die meisten Menschen der Welt tun und dies dann Leben nennen. Die Röhre hier ist groß und schwarz, ist innen rot ausgeleuchtet und knirscht unheildrohend, und sie wird geschoben und schiebt selber, sie walzt langsam, sehr langsam, aber sie kann sich auch atemberaubend um sich selber drehen und in diesem Wirbel Lebensgefahr für jeden simulieren, der ihr zu nahe kommt. In die Röhre schauen, also existieren, es heißt: Im Grunde passiert nichts, aber man starrt gebannt dorthin, wo nichts geschieht.

Nach fünf Minuten, die hier fünf Stunden zu dauern scheinen, bist du völlig aus deinem landläufigen Zeitgefühl geraten. Dies Empfinden reizt Fritsch aus. Und dann jagt er seine Truppe an zehn runtergewirtschaftete Klaviere, die fuhren aus dem Unterboden hoch, und jetzt beginnt ein (wieder endloses) Konzert der fortwährenden Ein-Ton-Tasten-Tortur. Dissonant und doch stimmig. Der immer gleiche Takt. »Heute gibt’s nur Achtel!«, kräht jemand. Und die Klaviertraktierer formen aus ihren Mündern derart gespenstisch offene, gehässige, lärmgeile Mäuler, dass jedes Schwarze Loch im Weltraum neidisch wäre. Fratzen der Häme, der Folter- wie der Kindesfreude. Das kennen wir doch vom Umgang der Welt mit uns: den nicht abstellbaren Wassertropfen auf die immergleiche Bewusstseinsstelle!

Natürlich sind die Klaviere eine grandiose Hüpf- und Balancierlandschaft, und Komponist Ingo Günther dirigiert im knallrot engen Matronenkleid diese fröhlichst aggressive Tanz- und Trance-Truppe. Schüchterne und eitle, grelle und gespenstisch lauernde Gaudigeschöpfe, die nach einem undurchschaubaren Muster zum Schwarm zusammenschießen oder auseinanderstieben in viele Varianten der stolzen oder angstzitternden Vereinzelung. Sie spielen die hüftschwingende Freeze-Fressen-Ästhetik aus Hollywoodfilmen nach. Werden zu grummelnden, weil zu sklavischem Fleiß angetriebenen Bassin-Bastlern - die unzählige Pappkartons mit blauen Schaumgummiwürfeln in ein Bühnenloch mit unterbodigem Trampolin kippen müssen. Springen kopfüber hinein und stecken erstickungslang im »Wasser«. Vervollständigt wird das Schwimmbad mit einem Ein-Meter-Sprungbrett - das erwartungsgemäß wegbricht, wenn Wolfram Koch die herrlich komische Pantomime eines Meisterspringers bietet. Peinlichst ehrgekränkt schreit er dem lautesten Lacher in der Seitenkulisse zu: »Ich habe den Don Carlos gespielt, du Arschloch!«

Fritschs Theater, das ist der bunte Lumpenball der Lemuren, der nachthemdige Karneval der Karikaturen, die turmfrisurige Ulkstunde der Untoten. Eine Zeremonie der Zombies. Da ein Spreizfinger von Robert Wilson, dort eine dreckrote Zunge, wie von Joker, dem »Batman«-Bösewicht Tim Burtons; Struwwelpeter marschiert, Barbie kichert und stolziert, und in jedem, der da schleicht, springt, bleckt und bibbert, lebt der Kern dessen, was stets auch den Schauspieler Herbert Fritsch ausmachte: Grusellaune und Liebe zum Hässlichen - das hier in großen Kreidebuchstaben »Schön« an die Röhre schreibt. Alles ist künstlich und an den toupierten, turmziselierten Haaren herbeigezogen. Wolllust und Tolllust. Oder Tollwolllust.

Fritsch, bei Castorf einst das sudelndste, dürrste und dünnhäutigste Darstellungsgespenst, hat eine Auffassung vom Beruf, die wahrscheinlich darin gipfelt, das Meer mit einem Eierbecher auszusaufen, Schluck für Schluck - mal sehen, wie lange die Zuschauer das aushalten. Die gehen immer noch nicht? Langsamer trinken! Eierbecher weg, Fingerhut her! Eine Glanzparade der zähest zelebrierten Sinnlosigkeit. Allem hirnmuskulösem Gewerbefleiß sagt Herbert Fritsch heiter den Kampf an. Einen Plastebecher über einen rotierenden Milchschäumer gesteckt, und zu den rülpsend blöden Geräuschen synchrone Mundbewegungen: Schon ist er erfasst, der Geist des modernen Diskurses. Des Plapperpfusches. Des Vergraulungs- und Verständigungspfusches zwischen den Parteien. Des Koalitions- wie des Oppositionspfusches.

Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Wolfram Koch, Annika Meier, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Varia Sjöström, Stefan Staudinger, Komi Mizrajim Togbonou, Axel Wandtke, Hubert Wild: Am Ende der etwa hundert Minuten tritt jeder nach vorn an die Rampe, sagt in jeweils sehr eigener Art (forsch, verloren, schüchtern, showbewusst) »Tschüss«. Einer sagt: »Tschass« (ein bisschen Pfusch muss ein). In den Beifall hinein senkt sich knarzend der eiserne Vorhang. Geht nicht wieder hoch, so stark der Applaus auch ist. Nach Marthalers nun auch Fritschs letzter Volksbühnen-Abend. Kein Abschied für immer: Der Pfusch zieht noch jeden Jahrhundertweg.

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