Kampf um kleine Verbesserungen

Weniger Schauspielerei, mehr Varianten für den Trainer: Die neuen Handballregeln bewähren sich auch bei der WM

  • Michael Wilkening, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Andreas Wolff spricht abseits des Handballfeldes gerne klare Worte. Der Torwart der deutschen Handballnationalmannschaft gehört zu den Besten seines Fachs - und zu den Kritikern der neuen Regeln, die vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro eingeführt wurden. »Von mir aus kann man das wieder abschaffen«, sagte Wolff am Rande der Weltmeisterschaft in Frankreich. Dabei haben die modifizierten Regeln bislang keine allzu großen Auswirkungen gebracht, eine Revolution der Sportart blieb aus.

Die Weltmeisterschaft in Frankreich hat aus deutscher Sicht zum Schluss hin keine schönen Geschichten geschrieben. Das Aus im Achtelfinale gegen Katar war ein Rückschlag im Bestreben, die Konstanz einer Weltklassemannschaft zu erlangen. In seiner Verzweiflung bediente sich Trainer Dagur Sigurdsson in der Schlussminute beim 20:21 gegen das Emirat einer Variation, die seit einer Regeländerung im vergangenen Sommer neu zum Repertoire gehört: Sigurdsson wechselte Wolff gegen einen zusätzlichen Feldspieler aus, um doch noch den Ausgleich zu erzwingen. Es gelang nicht, auch die personelle Überzahl brachte das Glück nicht zurück.

Die Möglichkeit, fortan einfacher mit sieben Feldspielern agieren zu können, weil der zusätzliche Feldspieler nicht mehr mit einem Leibchen gekennzeichnet werden muss, hat das Spiel verändert. »Es nicht schön, weil es den Handball langsamer macht«, sagt Nikolaj Jacobsen, Trainer des Deutschen Meisters Rhein-Neckar Löwen, »aber ich nutze diese Variante auch.« Vor allem gegen offensive Abwehrformationen gibt es die Möglichkeit, den Gegner mit einem Akteur mehr wieder an den eigenen Kreis zurückzudrängen. »Diese Regel erhöht die taktischen Möglichkeiten der Trainer«, findet auch der deutsche Spitzenschiedsrichter Lars Geipel.

Die Befürchtung, Teams könnten dauerhaft mit sieben Feldspielern agieren, hat sich indes nicht bewahrheitet. Es bleibt die Ausnahme, dass eine Mannschaft den Ball ins verwaiste Tor des Kontrahenten werfen kann. Auch wenn die gelegentlichen, spektakulären Bilder eines Balles, der quer über das Spielfeld ins Netz fliegt, einen anderen Eindruck vermitteln.

Der Torwart wird gegen einen zusätzlichen Feldspieler vor allem dann getauscht, wenn sich eine Mannschaft wegen einer Zeitstrafe in Unterzahl befindet. Der Nachteil wird deutlich kleiner, sofern das Team gut darauf vorbereitet ist, bei einem Ballverlust flugs den Torwart zurückzuwechseln. »Das Spiel wird härter werden, weil eine Zeitstrafe nicht mehr so große Auswirkungen hat«, hatte der ehemalige deutsche Nationalspieler Stefan Kretzschmar vor der Einführung der neuen Regeln gemutmaßt. Der TV-Experte hatte Sorge, dass es viel mehr harte Fouls geben würde. Die Realität sieht anders aus: Sowohl bei den Olympischen Spielen als auch bei der WM in Frankreich gibt es keinen Anstieg der Zeitstrafen, brutale Fouls bleiben eine Seltenheit.

Zudem ist es bei der WM nur selten vorgekommen, dass die Schiedsrichter ein Zeitspiel gegen eine der Mannschaften nach der neuen Regel abpfeifen müssen, weil diese mehr als sechs Pässe gespielt hat, nachdem die Unparteiischen auf passives Spiel entschieden haben. Lange Jahre hatte es zuvor allein im Ermessen der Schiedsrichter gelegen, wann sie einen Angriff beenden, weil das ballführende Team erkennbar zu wenig Torgefahr entwickelt. »Die neue Regelung erleichtert uns die Arbeit sehr«, sagt Geipel, der mit seinem Kollegen Marcus Helbig bei der WM im Einsatz war.

Ebenfalls positiv bewertet Referee Geipel die Regelung, dass ein Spieler drei Angriffe seiner Mannschaft pausieren muss, wenn er sich auf dem Spielfeld behandeln lässt, ohne dass es eine progressive Bestrafung (Gelbe Karte, Zeitstrafe) für den Gegner gegeben hat. »Es gibt weniger Unterbrechungen, dadurch wird das Spiel attraktiver«, sagt der Schiedsrichter. Schauspielerische Einlagen verkneife sich so mancher jetzt lieber.

»Das kann gerade in der Schlussphase ein Spiel massiv beeinflussen«, hatte Bob Hanning im vergangenen Sommer gemutmaßt. Der Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB) und Manager der Füchse Berlin fürchtete bewusste Angriffe auf die Schlüsselspieler durch den Gegner. Bislang blieben derlei taktische Manöver aber aus.

Knapp acht Monate nach der Einführung und mit der Erfahrung von zwei großen Turnieren im Männerbereich steht fest: Die neuen Handballregeln haben die Sportart ohne Zweifel verändert - ohne sie zu revolutionieren oder in ihren Grundfesten zu erschüttern.

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