Goethe zieht in unsere Kriege

Zum Abschied nach 25 Jahren Intendanz: Frank Castorfs faszinierender »Faust« an der Berliner Volksbühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Gretchen fläzt neckisch-nuttig auf dem Tresen, nicht im Kerker. Valery Tscheplanowa. Singt »Geh nicht fort«. Martin Wuttkes Faust, der sie retten will, trägt eine gummiglibbrige Greisenmaske und sabbelt Versreste, als röchle Bernhard Minetti. Goethe für Zahnlose. Am Nebentisch Studiosus Wagner, bei Lars Rudolph sehr schleimig, sehr ölig, er schmatzt sich mit wahntriefender Lippe in seine Homunculus-Phantasie hinein, hütet das Glas mit dem künstlichen Wesen. Gretchen leckt den Deckelverschluss vom Einweckglas auf, Hände quetschen den Gummifötus, ein Schluck von der Konservierungsflüssigkeit ist auch nicht zu verachten. So geht das schon mal los. Horror vom Besten.

Frank Castorf inszenierte - als letztes großes Werk seines Vierteljahrhunderts an der Berliner Volksbühne - den »Faust« von Goethe. Motive und Gestalten der Tragödie tauchen auf, locken an, gewinnen Kontur, verlieren sich wieder in fremden Texteinschüssen. Ein grandios kombiniertes Puzzle aus Momenten des ersten und zweiten Teils. Das springt vor, springt zurück, wieder vor, springt an, springt weg - alles ist Zulieferung für eine Atmosphäre zwischen geschichtsschmutziger Schwüle und zombieböser Weltkulisse.

Tatort Kolonialismus. Algerienkrieg. Paris. Ein Geisterschloss-Theater, gebaut von Alexandar Denic. Beklebt mit Film- und Revueplakaten. Rot neonleuchtend überm Eingang: »L›Enfer« - die Hölle. Innen irgendwie alles Indochina. Suhl-Ecken mit Ornamenten, denen das Hakenkreuz eingeschrieben ist. Strohkäfig und Legionärs-Bar. Draußen Treppen in die Unterwelt: die Metrostation »Stalingrad«. An den Wänden Freiflächen - für viel, viel Film (inzwischen eine ganz eigene Genialität: die Kameraleute der Volksbühne!).

Das Theater Castorfs ist auch an diesem siebenstündigen Abend ein stolzer Autist; es bleibt stur bei jener Selbstbefragung, die frech ihr Ursprungsrecht wahrnimmt: Rücksichtslosigkeit. Komme doch keiner mit der Vermittlungsfunktion von Kunst. Eigensinn hat Kraft, wenn er elitär ist. Kunst muss den Realitätssog in uns blamieren, dieses elende: Dies ist eindeutig so und jenes zweifelsfrei so, und dies bedeutet genau das und jenes meint unbedingt Folgendes. Castorf mag krude, krasse Wahrheiten, die keine Freunde brauchen. Mehrheiten schon gar nicht. Auch nicht im Publikum. Genuss ist nicht, an die Hand genommen zu werden, sondern: in Erklärungsnot zu geraten.

Quäl dich, wie diese Aufführung sich quält. Mit Fragen. Mit jenem »Hunger nach Erregung« (Rimbaud), der doch so schwer zu stillen ist - heute, im Joch unserer Bürgerlichkeit. Eine Bürgerlichkeit, die Kolonialismus blieb. Für diesen Gedanken entert Castorf Goethe. Er deklamiert, um Zorn zu reklamieren. So wie er hier in den Algerienkrieg zieht, so zog er vor einiger Zeit bei »Baal« in München in den Vietnamkrieg. Der Brecht-Clan hieb drein. Goethe aber ist Klassiker, er kennt in Sachen geistiger Weite keine Verwandten. Und findet nahtlos Anverwandte. So feiert der Pamphletton Frantz Fanons, Philosoph der Entkolonialisierung, feurig die Ent-Schleierung der Frau - Emanzipation als Waffe im Befreiungskampf. Lange (zähe) Spielszenen aus Zolas Roman »Nana« verlängern gleichsam die Gretchen-Tragödie in den Beginn der Moderne: Die Hure ist Perle und Plebs; Besitz ist Fluidum und Fluch; Gründerzeit ist Progress und »Pornografie« (Pasolini).

Abdoul Kader Traoré trauert und klagt sich in der U-Bahn Celans »Todesfuge« aus dem Leib: Der Farbige, der Fremde, der Fluchtbedrängte - und der Tod, der nicht mehr nur ein Meister aus Deutschland ist, sondern aus dem vereinigten Europa. Der Tod ist dann doch wieder ein Meister einzig aus Deutschland: Schubert. Dessen »Winterreise«. Sir Henry spielt den »Leiermann«, Sophie Rois singt, dass alle Oberflächen wegklirren. Große, fest an den Schmerz gebundene Kunst. Faust mit dem Glibbergesicht sitzt an der Seite: Der Mensch, ein einsames Bündel, zusammengeschnürt für die letzte Reise. Die ist jederzeit, meist mitten in den Aufbrüchen.

Einmal heißt es, Libertäre seien die Härtesten unter den weichen Linken. Gruß an eine Kapitalismuskritik, die nichts mehr zu verlieren hat außer ein paar Lichterketten. Ist nicht jedem von uns ein Mainstriemen über den Charakter gezogen, der merklich entstellt? Der wunderbar nervenoffene wie gangstercoole Texttänzer Alexander Scheer lässt als Lord Byron einen Monologvulkan ausbrechen: wuchtig, dann weich und weh. Der wahre Mensch braucht keinen Teufel zum Ansporn, aber auch keine guten Geister, also: Bleib allein, verlass die Bündnisse! Es ist das Schönste - und das Schlimmste. Byrons »Manfred« wirft sich oben zwischen den Schlosszinnen von Wand zu Wand, Todesangst und Todessehnsucht passen in ein einziges Gesicht. Springen? Nein, fliegen. Im Stürzen das Siegen. Scheer zum Niederknien.

Castorfs umwerfende Schauspieler! Da ist wieder alles, was an der Volksbühne Theatergeschichte schrieb: die geile Körperlichkeit, die geschmeidige, brachiale Überspanntheit von Stimme und Bewegungen. Alles so impro-genau, alles so porenoffen, alles so textmassentapfer. Sophie Rois: grazil giftig, tollkalt, federnd, eine hexische Diva. Lilith Stangenberg kieksend kindlich, Valery Tscheplanowa mit wunderschöner Ruheenergie und tollem Rauch in der Stimme. Und weitere wilde, wache Weiberschaft! Pressend behend die Korpulenz Daniel Zillmanns. Marc Hosemanns Mephisto wirbelt, wuselt sich als eher unauffälliger Malocher durch den Abend.

Martin Wuttke! Faust verwirrt, versifft, auf keinen Fall verwegen. Mit Maske, glatzig, mit langen Blondsträhnen. Kalt im Räsonieren: der Intellektuelle als Verbrecher, wenn er Avantgardist wird. Säuft in der Hexenküche Jungbrunnen, erst da fällt ihm ein: »Habe nun, ach ...« Selbsterkenntnis wie eine Seekrankheit. Oder Sehkrankheit: Wer sich ehrlich ins Herz schaut, züchtet Infarkte. Auf jeden Fall ist Fausts Leben zum Kotzen, und so tut er das, mit dem Kautschuk seines gesamten Körpers. Komik, die alles zerfleischt. Immer spielt er, als habe er das Nichts erblickt. Aber freilich ist das die große Kunst dieses Spielers: dass er uns noch bei jeder Fratze ein ehrliches Erbarmen entlockt.

Immer wieder versetzt Castorf den Schauderton seines Schrillbudenplatzes mit der Anmut leiser, flehender Sätze. Dunkel pochender Existenzialismus, aufgedreht ätzender Spott. Alles so scharf wie der Blick, den dieses Theater traditionell auf hochhackige Weiberbeine wirft. Die Laufmasche am Netzstrumpf als lockende Horizontlinie. »Das ist jetzt aber ziemlich frauenfeindlich«, sagt Alexander Scheer, und im derzeitig angespannt-neurotischen Politgehechel der Sexismusfahnder rundum tut so ein bisschen Kabarett ganz gut. Am Ende der Tragödie weiß Goethe: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan«. Valery Tscheplanowa, mit weißer Federboa, zeigt triumphierend nach oben. Oben ohne. Entschleierung total.

Faust, der das Maß der Dinge heben will und sich im Maßlosen überhebt - längst kein Heros der Vernunft mehr. »Es irrt der Mensch, so lang er strebt« - ja, und in jedem Streber keimt ein Mörder. Aufsteiger sind auch Auslöscher. Im Schatten der Imperialismen keimt die letzte Hoffnung: Der Mensch möge endlich aufhören zu erkunden, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Denn wegen dieser Erkundung erfand er den Sprengstoff, und die Zusammenhalte fliegen regelmäßig in die Luft. Die Scham der Utopie wandelt sich stets zur Autorität des Schlachtmessers. Unvergesslich die schönen algerischen Frauen in einem Spielfilm-Ausschnitt. Partisaninnen. Bombentransport in der Handtasche. Die Explosion.

Aber: Die bedrückende, fast berückende Kraft solcher Szenen reibt sich am unverhemmten Ulk, am Grobcharme Castorfs - zum Schluss etwa kurvt Wuttke auf einem quietschenden Kinderfahrrad herum, und Mephisto, der auf Esso- und Texaco-Fässern hereinstelzte, drischt ihm dauernd ein algerisches Fähnchen auf den Schädel. Das Lustigste ist das Traurigste: He, Leute, wir spielen nur!, draußen aber protzt das bitter Wahre: die Vergeblichkeit. »Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir ihre Objekte.« Und Demokratie? Ist nicht mehr als Wählness: Massage links, Massage rechts, das Rückgrat biegt sich in jede Richtung. Und du siehst auf der Leinwand die Schönheit der algerischen Widerstandsfrauen und denkst an den Preis, den sie zahlten, und du weißt: Der Preis jedes Kampfes ist am Ende immer zu hoch gewesen.

Faust, dies Ding in der Hosentasche. Nicht gut. Aber vielleicht besser so. Wer weiß es denn wirklich.

Nächste Vorstellungen am 10., 12., 17. und 18. März

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