Die Bekenntnisse eines Davongekommenen

Der Sozialphilosoph Oskar Negt hat sich auf autobiografische Spurensuche begeben

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Unterschied zum professionellen Historiker, der - um die Biografie einer Person zu schreiben - in die Tiefe der Archive taucht, hat der Autobiograf oft nur wenige ergiebige Quellen zur Verfügung und ist im Wesentlichen auf seine Erfahrungen und Erinnerungen angewiesen. Das gilt besonders für die eigene Kindheit.

Autobiografien sind ein vermintes Feld, weil vieles vergessen oder im Sinne der Begradigung der Lebensgeschichte zugerichtet wird. Der Philosoph und Soziologe Oskar Negt beginnt seine Autobiografie mit einer scharfsinnigen Analyse der Untiefen, Fallen und Fallstricke jeder Autobiografie. Zwar stecke in jedem Satz «ein Wahrheitsversprechen», aber was darin Wahrheit oder nur subjektiv gefärbte Erinnerung oder Illusion ist, lasse sich nicht leicht eruieren.

Erfahrungen und Erinnerungen sind für Negt kein Kern- oder Besitzstand, sondern Fragmente aus einem kontinuierlichen Lernprozess. Deshalb versucht er erst gar nicht, seine Lebensgeschichte als stetiges Fortschreiten im Sinne eines linearen Fortschritts oder gar eines ungebrochenen Aufstiegs zu erzählen, sondern begnügt sich mit Exemplarischem, das er im Rückblick auch kritisch reflektiert. Denn Autobiografien enthalten «immer auch ein Elemente von »Selbsttherapie«.

Oskar Negt wurde als siebtes und jüngstes Kind im ostpreußischen Dorf Kapkeim in eine bescheidene Kleinbauernfamilie hineingeboren. Für Max Weber waren diese Scheinselbstständigen »Arbeiter, Kleinunternehmer und Knechte in einer Person«. Negts Vater war seit 1918 SPD-Mitglied. Im Januar 1945, die Rote Armee hatte fast ganz Ostpreußen erobert und Königsberg eingekesselt, entschloss sich die neunköpfige Familie zur Flucht. Die älteste Tochter arbeitete bereits als Verkäuferin in Berlin. Zwei Schwestern von Negt, 16 und 17, sollten mit dem zehneinhalb jährigen Oskar mit der Bahn nach Berlin reisen. Die Eltern und die restlichen drei Kinder schlossen sich einem Treck an, der über die gefrorene Ostsee nach Westen gelangen wollte.

Der Zug, in dem Oskar und die Schwestern saßen, wurde in einen Unfall verwickelt und konnte, mitten im strengen Winter, erst nach vier Tagen bis Königsberg weiterfahren. Dort angekommen, erfuhren die drei, dass kein Zug mehr nach Berlin ging, die Stadt stand unter Artilleriefeuer und war schon fast zerstört. »An diesem Tag endete meine Kindheit« stellt der 83-jährige Oskar Negt fest.

Was er von der weiteren Fluchtodyssee erzählt, die nach Dänemark und dort in ein Internierungslager führte, ist vor allem eine Hommage an die beiden Schwestern, ihren Mut und ihre Nervenstärke unter lebensbedrohenden Gefahren. Das Leben und Überleben unter garstigen Umständen rettete, so Negt im Rückblick, das Vertrauen auf und die Solidarität untereinander. Der Autobiograf spricht in diesem Zusammenhang von »Kraftquellen« und - in Anlehnung an Kant - vom »Vernunftglauben«.

Im Internierungslager in Dänemark, zuerst unter deutscher, dann unter dänischer Regie, verbrachten die drei Negt-Kinder zweieinhalb Jahre ohne Schulbesuch. Oskar war auf Selbstbeschäftigung angewiesen, denn die Mädchen wurden zum Küchendienst herangezogen. Sie hätten weder Hunger noch Demütigungen erlitten, erinnert sich Negt. In Dänemark gilt diese Vergangenheit allerdings bis heute als belastend und beschämend. Denn der dänische Ärzteverband etwa forderte im März 1945, den 240 000 Flüchtlingen keine medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Oskar Negt aber sieht sich nicht als ein Opfer, sondern als ein »Davongekommener«, dessen »Denken und Empfinden« durch diese Erfahrung lebenslang geprägt wurde.

Dank der Bemühungen des Roten Kreuzes konnten die Negt-Kinder schließlich nach Deutschland zu ihren Eltern und Geschwistern ausreisen. »Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt«, urteilt der Autor. Die Familie lebte ab dem Sommer 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone in der Nähe von Berlin auf einem durch die Bodenreform geschaffenen Neubauernhof. Der Vater fand sich aber nicht mit der Vereinigung von SPD und KPD zur SED ab und floh 1951 mit der Familie über Westberlin nach Niedersachsen. Das Bildungswesen in der sowjetischen Zone bzw. dann in der DDR enttäuschte Oskar Negt: »Nichts, was hier über Marx und Lenin vermittelt wurde, ist mir haften geblieben«, stellt er heute fest. Erst mit dem 1955 bestandenen Abitur im Westen endeten für Negt endgültig zehn Jahre Flüchtlingsleben.

Mit der Lektüre von Marx‘ Frühschriften dank Siegfried Landshuts Edition von 1953 habe seine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus begonnen, bekennt der Autobiograf. Sie führte ihn nach einem verunglückten Versuch in Göttingen nach Frankfurt am Main. Damit endet leider die Spurensuche des Oskar Negts. Der Leser wäre seinem Lebensweg gern noch weiter gefolgt.

Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche. Steidl Verlag. 319 S., geb., 24 €.

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