Das Schweigen der Familien

Im vorgerückten Alter wollen Kriegskinder und -enkel wissen, wie sich Eltern und Großeltern in der NS-Zeit verhielten

  • Ulrich Gineiger
  • Lesedauer: 9 Min.

Hanna K.* schweigt, als sie vorsichtig alte Fotos aus einem braunen Umschlag zieht. Sie legt die Bilder in eine Reihe auf den runden Holztisch in ihrem gepflegten Wohnzimmer.

Bild eins. Ein offener Lastwagen mit einer Art von Viehverschlag. Im Wagen sind zwei bis drei Dutzend kahl geschorene, junge Männer zusammengepfercht.

Bild zwei. Die Männer springen vom Wagen, laufen geduckt in einen ausgehobenen Graben, im Hintergrund Wehrmachtssoldaten.

Bild drei. Ein Berg von Leichen, fein säuberlich aufeinander geschichtet. Auf dem Leichenberg steht breitbeinig ein deutscher Unteroffizier, der in die Kamera grinst.

Bild vier. Der Unteroffizier sitzt neben einem Zivilisten, der lächelt. Ein gut aussehender Mann in mittleren Jahren.

»Mein Vater«, sagt Hanna K. leise.

Er sei ein großartiger Mann gewesen. Irgendwann tauchten auf dem Speicher die Fotos auf - und die Kinder erklärten ihr: »So toll kann dein Vater ja nicht gewesen sein.« Dann trat ein langes Schweigen ein, bei dem die Scham behilflich war.

Es ist vier Jahre her, dass Hanna K. zu reden begann. Seither hat sich ihr Leben verändert. Sie wirkt gefasst, als sie reflektiert: »Ich musste realisieren, dass mein Vater nicht nur der gute Mann war, und habe lange geschwiegen und geweint.« Später ging sie auf Seminare für Kriegskinder, wo sie einen Runden Tisch gegründet hat. »Das hat vielen geholfen, ein Tabu zu brechen.« Langsam spürte sie eine tiefe Befreiung: »Ich bin überzeugt, dass man der Realität ins Auge sehen muss, sonst sind Kinder und Enkel betroffen. Es ist in der Familie und im Volk drin.« Hanna K. berichtet von - wie sie sagt - »Kotzanfällen. Ich musste alles auskotzen.« Manchmal lag sie das ganze Wochenende im Bett. Bewegungslos. Seit sie die Erinnerung kultiviert und zum Befreiungsschlag ausgeholt hat, sind die Beschwerden verschwunden.

Was spielt sich da ab in Seele und Körper? Winfried Nelles, Psychologe vom Institut für Phänomenologische Psychologie, hat eine Erklärung. Sein Institut ist in seinem Wohnhaus in Mechernich untergebracht, eine Stadt in der Nordeifel. Winfried Nelles ist ein gelassener wie humorvoller Mensch mit neugierigen Augen. Aufmerksam lässt er sich Fälle wie jenen von Hanna K. schildern. Seine Erklärung: »Wenn unser Weltbild - zum Beispiel das vom guten Vater - erschüttert ist, dann kann das ein Kind gar nicht aufnehmen. Es bleibt wie eine Brache unter der Erinnerung liegen. Daher ist es wichtig, darüber zu sprechen. Dafür braucht es auch Zeugen.«

Diese Erinnerung könne heilen, wenn man sich als Erwachsener bewusst mache, dass man nicht mehr Kind ist - »dass ich die Erinnerung heute anders beurteile, und dass auch der Vater ein Mensch war«. Damit beginne die Heilung der Seele. Vollständig sei die Heilung erst, wenn das Erinnerte als Trauma vergessen werden könne.

Ortswechsel. An der alten Universität Köln in der Nähe des Rheins erinnert eine Metalltafel daran, dass hier die Nazis Bücher öffentlich verbrannten. Ich bin mit Sabine Bode verabredet, die nach Gesprächen mit der Kriegsgeneration Bestseller geschrieben hat: »Die vergessene Generation« und »Kriegsenkel«. Ihre Bücher hätten vor sieben Jahrzehnten vermutlich ebenfalls gebrannt.

Das Argument, es müsse mal Schluss sein, über diese Zeit zu reden, hat sie schon häufig gehört. Die alten Menschen, mit denen sie sprach, hatten sich meist aus Scham an diese Parole gehalten. »Das ging erst 2005 los, dass man reden konnte. Vorher haben sie sich auch nicht Kriegskinder genannt, sondern Nachkriegskinder. Krieg war nicht ihre Identität.« Warum das lange Schweigen? »Wenn man als Kind erfährt, dass das alles unwichtig ist, dass es das Wichtigste ist, überlebt zu haben, und wenn man als Kind auch keinen emotionalen Zugang zu diesen Dingen hat, weil sie so unerträglich waren … Kinder sind ja immer Meister der Selbstberuhigung, aber auch Meister der Selbstbetäubung. Und genau das tun sie, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird.« Es gab bis dahin für diese Generation zwei Arten, darüber zu reden: entweder mit dem Tenor »Das war lustig« oder so unbeteiligt, als würde man aus dem Telefonbuch vorlesen. Erst jetzt erlauben sich alte Menschen einen Zugang zu ihren Gefühlen.

Durch die öffentliche Diskussion über die Naziverbrechen sei Deutschland zwar wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen worden, sagt Sabine Bode. Aber: »Das hat nicht dazu geführt, dass das Schweigen innerhalb der Familien aufgebrochen wurde. Das ist erst entstanden durch zwei Faktoren: Diejenigen, die einst verstrickt waren, leben zum größten Teil nicht mehr. Das Zweite aber: Seit etwa sieben Jahren gibt es eine Gruppe von Menschen, die nennen sich Kriegsenkel.« Als sie den Namen das erste Mal hörte, habe sie aufgehorcht: Kinder der Kriegskinder. Eine Gruppe, die entschlossen sei herauszubekommen, was damals geschah. Diese Leute seien in ihren Selbsthilfegruppen perfekt vernetzt. Allein in der Deutschen Dienststelle, die Auskunft über Wehrmachtsangehörige gibt, verzeichne man einen erheblichen Ansturm von Anfragen.

Am Ende des Gesprächs - es ist ein kühler Morgen, die schräg stehende Sonne hüllt die Szene in ein harmonisches Licht - fällt Sabine Bodes Blick noch einmal auf die Mahntafel der Bücherverbrennung. »Wenn ich mir vorstelle, dass hier meine Bücher gelandet wären - da fängt man an zu schweigen. Oder?«

Sabine Bodes These, dass sich vor allem die jüngere Generation für die Geschehnisse in der Nazizeit interessiert, findet in einem der düsteren Orte Kölns Bestätigung: im ehemaligen Gestapo-Gefängnis am Appellhofplatz. Hier wurden Gegner des Hitler-Regimes verhört, gefoltert und erhängt. Eine dunkelgraue Treppe, flankiert von einem eisernen Geländer, führt hinab zu den Zellen. Sie sind etwa fünf Quadratmeter groß, bis zu 30 Menschen waren in jeder Zelle inhaftiert. Die Inschriften an den Wänden sind erhalten. Etwa: »Wenn keiner mehr an Dich denkt, Deine Mutter denkt an Dich.«

Der Leiter des Dokumentationszentrums, der Historiker Werner Jung, übersetzt eine Wandkritzelei in russischer Sprache. 1800 solche Inschriften blieben erhalten - das ist europaweit einzigartig. Ein Zwangsarbeiter, den man der Sabotage bezichtigte, schrieb: »Seit dem 24. 12. 44 inhaftiert, 40 Leute wurden gehängt. Wir haben 43 Tage gesessen, das Verhör geht zu Ende, jetzt sind wir mit dem Galgen an der Reihe. Ich bitte die, die uns kennen, auszurichten, dass auch wir in diesen Folterkammern umgekommen sind.« Werner Jung: »Hier, mitten im Herzen dieser Stadt, passierten solche Verbrechen. Das ist es, was Touristen so unglaublich ergreift. Hat das keiner in dieser Stadt mitbekommen? Doch, man hat es mitbekommen!«

Oft hat Jung es erlebt, dass frühere Insassen oder deren Angehörige hierher kommen, sich erst überwinden müssen - und dann tief bewegt erkennen, mit welchem Ernst man sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzt: »Das ist eine tiefe Befriedigung für diese Menschen.« Jung attestiert gerade auch Jugendlichen ein erhebliches Interesse an den Ereignissen der Nazizeit.

Die Tage jener, die den Terror erlebt haben, sind gezählt, sagt Manuel Becker vom Institut für politische Wissenschaften an der Universität Bonn. Die Aufarbeitung der Nazidiktatur ist sein Thema. Verwaltungsarbeit habe man in der Nachkriegszeit nicht anders bewältigen können, als Altnazis einzustellen. Also Menschen, die in die NS-Herrschaft verstrickt waren: »Zu viele hatten sich schuldig gemacht. Allerdings muss man die individuelle Rolle beurteilen.« Von Mitläufern bis zu schwer Schuldigen reiche die Bandbreite. Darüber - und über die Gräuel der Nazizeit selbst - sei in den 50er Jahren der graue Mantel des Schweigens gebreitet worden.

Bis in den 60er Jahren Fragen immer lauter gestellt wurden. Geballt vor allem durch die junge Generation 1968. In den 70ern wurde die Erinnerungskultur durch die Intellektuellendiskurse geprägt. Die US-amerikanische Serie »Holocaust« hatte in Deutschland unerwartet hohe Einschaltquoten. Erst jetzt wurde das Thema verbindlich im Schulunterricht. Während der Osten Deutschlands sich als antifaschistischer Staat verstand und über eine Verantwortung seiner Bürger im Zusammenhang mit den Naziverbrechen nicht gesprochen wurde, begann in der Bundesrepublik ein Aufarbeitungsprozess - verbunden mit der Aussöhnung mit Israel.

Natürlich hat auch Manuel Becker beobachtet, dass die Zeitzeugen Jahrzehnte geschwiegen hatten. »Die Veränderung kam etwa mit der Jahrtausendwende«, meint Becker. Vor allem durch die Enkelgeneration seien Fragen an die letzten Zeitzeugen endlich auf den Tisch gekommen - auch der Tatsache geschuldet, dass allmählich die Zeit weglaufe. »In 10, 15 Jahren ist es vorbei«.

Zu diesen Zeitzeugen gehört Edeltraud Nölkensmeier. Auch sie wohnt im Norden Kölns und steht in Verbindung mit anderen Kriegskindern, die unter der Betreuung des Psychologen Werner Hübner ein Netzwerk gegründet haben. Auch auf sie trifft zu, was Werner Hübner so formuliert: »Nun ist die Seele befreit vom Aufwand des Verdrängens der Erinnerung, leistet nun keine Abwehr- und Verschiebungsarbeit mehr.«

Die Sonne scheint in das geräumige Wohnzimmer; das einzige Geräusch kommt von der Wanduhr. Nur gelegentlich hören wir das Lachen spielender Kinder. Edeltraud Nölkensmeier habe ich vor vier Jahren schon einmal interviewt, als sie eben mit einem Albtraum ihres Lebens abgeschlossen hatte: »Im Erwachsenenalter habe ich gespürt, dass in mir eine diffuse Angst ist, der ich kein aktuelles Ereignis zuordnen konnte. Eine heftige Bedrohung. Als dann die Erinnerungskultur publik wurde, habe ich genauer hingesehen - mein Albtraum war eine immer weinende Mutter als große, schwarze Frau.« Darauf konnte sie sich keinen Reim machen. Im Zuge der Aufarbeitung erfuhr sie, dass die Schwester ihrer Mutter geistig leicht behindert war. Sie wurde in der NS-Tötungsanstalt Hadamar vergast, als eines von über 14 000 Opfern.

Vor vier Jahren machte sich Edeltraut Nölkensmeier auf, um die Gaskammer in Hadamar zu sehen. Sie bietet in der heutigen Gedenkstätte den selben Anblick wie damals. »Es war wie ein Zwang, dort zu sein«, berichtet sie. »Ich musste dort stehen und versuchen zu empfinden, was meine Tante in den letzten Stunden an Ängsten ausgehalten hat.« Was bedeutet dieses Erlebnis für sie? »Es ist alles - nein, nicht erledigt, aber es ist ein Stückchen Freiheit entstanden. Mich überfallen keine Ängste mehr. Und wenn ich doch welche habe, dann kann ich sie zuordnen.«

Ausdrücklich warnt sie davor, die Kultur der Erinnerung aufzugeben. Als Trauerbegleiterin berichtet sie von der Begegnung mit Männern, die dem Tod nahe sind, die über ihre Taten in der Nazizeit nie gesprochen haben und unter der Last der Erinnerung von dieser Welt nur schwer Abschied nehmen können. Schließlich zitiert sie einen Satz aus dem Johannes-Evangelium: »Die Wahrheit wird Euch frei machen.«

* Der Name wurde verändert.

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