Das Deutschlandgefühl

Zum 90. Geburtstag des faszinierenden Schriftstellers Martin Walser

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der begreiflichste Grund, dem Leben einen Sinn zu geben: Man darf sein eigenes Verschwinden nicht allein dem Tod überlassen. Also: Erheb deine Vergänglichkeit zur Feier. Gewinn ihr alles ab, was an Staunen möglich ist. Martin Walser schreibt: »Man muss spielen mit der Schwere und so tun, als sei es leicht.« Dieser Autor liebt das Leben. Er entdeckt noch in bösesten Alltagswahrnehmungen das schöne Unverhoffte. Du weißt doch, was gemeint ist: Du bist doch auch, tief drinnen, weit mehr als deine öde, tägliche Vernünftigkeit, die dich in bezahlte Anstellung nahm. Du blühst! Das bleibt wahr - wenn du nur stark genug bist, nicht in die Spiegel von Wohnung und Welt hinein-, sondern hindurchzublicken. Walsers Werk bleibt einer Unvollkommenheit treu, die sich dem koketten Götzen Utopie ebenso widersetzt wie dem koketten Götzen Untergang.

Er schrieb lebenslang eine korallenschöne Prosa zwischen Selbstironie, sarkastischer Klarheit und klagender Hingegebenheit. Romane, ja, aber hinter jeder Handlungsfolie: Innenbilder, Traumschrecken, Denkstücke, kristalline Weisheiten. Die Gestalten, von denen viele aus dem Mittelstand kommen, entfalten eine forcierte Geselligkeit des Kleinstirnigen. Mit Dichterverständnis reich ausgestattet. Eine Welt der Versagensnahen. Wohlstandsgepolsterte Leerkörper. Armselige Sehnsuchtsblicker. Seelen, krumm geworden durch Arbeit am Status.

Von »Ehen in Philippsburg« bis »Angstblüte«: schwache Helden. Die Namen so skurril wie deutungsreizvoll: Gottlieb Zürn, Helmut Halm, Susi Gern, Karl von Kahn. Da ist alles drin, ein Herrschgebaren wie auch der arme Poet, das Weiche und das Fürchtige, das Gernegroße und das Gernefreche. Geschichten vom Wirbelwind gegen den Muff. Wirbelwind ist Leben, Muff bleibt stärkeres Leben - man wird nicht los, wogegen man kämpft. Aber: Das Kleinbürger-Sein ist auch Emanzipation! Ist Befreiung von den Agitatoren eines höheren Bewusstseins.

Die Literatur seiner späten Jahre, Lebensläufe der Liebe, beschreibt den Selbstbehauptungsreflex einer Biologie, die im Verwittern trotzig juckt. »Ein liebender Mann« als Beispiel: ein Roman darüber, wie Witwer Goethe 1823 in Marienbad auf Ulrike von Levetzow trifft. Man trinkt heilendes Wasser und brennt unheilbar. Eine Immergrün-Erzählung in den bösen Wettern des Lebensherbstes. Ein Trotzbuch, dem auch Tränen in den Augen stehen. Ein funkelnder Roman. Der aus der Liebespein eines Dreiundsiebzigjährigen gegenüber einer Neunzehnjährigen eine wunderbare leichte Tragödie macht.

Dann: »Ein sterbender Mann«, vom Lieben zum Sterben. Die letzte Etappe? Der Abschiedskurs, ganz gepflastert mit Einsicht und Einkehr? Mitnichten. Der Autor erzählt in betörenden Sätzen, was Einsamkeit ist, aber: Wenn er Frauen denkt, träumt er noch immer Seelenhochflüge - mit Notlandungen freilich auf dem Abgrundboulevard. Liebe findet nicht mehr zu ihrem Ziel, aber sie lässt sich auch nicht belehren. Ankerwürfe in dünnste Luft: Auf Jugendwahn, nicht alt zu werden, antwortet der Wahnglaube, nicht alt zu sein. Ach, dieser grandiose, wie Walser es nennt, »Trostlosigkeitsglanz«!

Er schreibt, vor Jahren war’s, den witzigen Roman »Tod eines Kritikers«, gilt plötzlich als antisemitisch. Lachhaft. Marcel Reich-Ranicki schürt. Dieser Unangenehmste von allen, die ihre Urteile gegen Walser sprachen, ohne sich je um Beweise zu kümmern. Walser hat den bissneurotischen Kritiker zwar später besser begriffen als zur Zeit des vermeintlichen Skandals (der doch nicht wirklich einer war, sondern nur Literaturbetrieb). Aber: Solch ein Einsehen - kein Abrücken! - ist doch das Natürlichste eines stets so entwaffnend offenen Menschen- und Selbstbeschreibers.

Da sind wir bei den »Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede«. So heißt der Text vom 11. Oktober 1998: In der Frankfurter Paulskirche bedankt sich Walser für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Das bleibende Bekenntnis eines Dichters zu seiner unbeirrbaren Gewogenheit für die weichen Stellen am Menschen. Die weichen Stellen und die faulen. »Jedes Bild von Auschwitz zerschlägt jedes mögliche Abkommen mit dieser Vergangenheit, die keine werden kann.« Geschrieben schon 1979, im Essay »Auschwitz und kein Ende«. Ein früher Verweis auf eine Verwicklung, die den Aufrichtigen nie wieder loslassen wird. Und die den Schriftsteller für alle Zeit auf jene Seite von Schuld und Schande bannte, wo er sich unentrinnbar ins Gewissen gehauen fühlt. Gegen eine schnurrende, politisch korrekte Ritualisierung von Opfergedenken. Gegen Routine-Moralisten und Reflex-Mahner und Berufs-Beschämer. Auch gegen einen bürgerfeindlichen Geist, der zum Beispiel »autonomes« Rowdytum zu adeln glaubt, indem er es flugs antifaschistisch nennt.

Wenn ich Walser lese, bin ich bei den Deutschen und dem, was hierzulande so schlecht zusammengehen darf: einem Geschichtsgefühl, das traurig-tröstend erheben darf. Bin bei Hölderlin und Büchner und Karl May und Brecht und bin bei einem friedlich revolutionären Glück, das nach 1989 auf unverhoffte Weise lebbar wurde. Der Autor, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, hatte nie ein geschädigtes Deutschland vor sich, er hat es seit je in sich. Nicht: Ich weiß, sondern: Ich leide. Und zwar an der Tatsache, die Seite der Täter nie verlassen zu können. Geschichte sackt ins Kalte, Verantwortlichkeit verblasst, aber nicht: Zuständigkeit. Das ist das Wort von jedem Gestern für jedes Morgen. Und Gewissen ist Walser nur immer eines: Suche nach Schwächebeweisen - vor allem in dem, was du propagierst. Also: Tu nicht so gerechtfertigt! In übertragenem Sinne: Bitte weniger Verlogenheit in dem, was wir gesellschaftlich für erreicht halten. Härter hineinleuchten in die Nachtseite der Aufklärung, wo wir ehrlicher sind als auf Podien und Parteitagen.

Dem Beifall jener Stunde damals in der Paulskirche folgte eine aufschäumende Empörungswelle. Bei der sich die meisten Interpretationen in geradezu frecher Ignoranz vom Text entfernten. Staatsanwaltliche Feuilletons. Walser kennt das seit Langem. Er hat gegen den Vietnamkrieg protestiert und musste sich als Kommunist beschimpfen lassen. Er hat in den Achtzigerjahren die deutsche Teilung als »Katastrophenzustand« bezeichnet und zog sich im »Meinungsgestöber« den Ruf eines Nationalisten zu - von Leuten, die im Herbst 1989 ins Stottern kamen und heute froh wären, einen Moment früher aus ihrem elenden Ideologiedogma aufgewacht zu sein.

Wenn Walser kritisch wurde in Richtung Gesellschaft, dann musste ihm mehr und mehr eine Bedingung erfüllt sein, »ohne die nichts mehr geht. Nämlich: etwas, was man einem anderen sagt, mindestens genauso zu sich selber zu sagen.« Frag nicht nach dem System, das ist immer und überall schuld, und frag nicht die Politiker von Rot bis Rostig - du kannst sie doch alle nicht mehr sehen, diese Laufradmäuse der Gähnetikforschung. Frag einzig nach dir selbst. Das ist eine klare Ansage gegen jene, die vor Gesellschaftsmaßregelung übersprühen. Die auf alles frühere Leben jene heutige Moral drücken, die immer eine besser wissende ist. Nachgeboren zu sein, heißt: Ein Teil Klugheit wird dir geschenkt. Also, fragt sich Walser inständig, wie wird man kritisch gegenüber den Zuständen und drückt gleichzeitig aus, nichts besser zu wissen?

An diesem Freitag wird der Schriftsteller, einer der größten, die Deutschland hat, neunzig Jahre alt.

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