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Gentrifizierung ist nicht alles: Jonathan Lethem kümmert sich wieder um sein altes Viertel Brooklyn

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.
Ist das die Gentrifizierung der Gentrifizierung? Solche Fragen beschäftigen Jonathan Lethem.
Ist das die Gentrifizierung der Gentrifizierung? Solche Fragen beschäftigen Jonathan Lethem.

Brooklyn war lange Zeit das bestimmende Thema für Jonathan Lethem. 1964 geboren, wuchs er dort zu einer Zeit auf, als der New Yorker Stadtteil noch als gefährlich und verrucht galt. Heute ist dort ein gentrifiziertes Hipster-Viertel mit Bioläden an jeder Straßenecke zu besichtigen, was in jedem New-York-Reiseführer als tolles Erlebnis gepriesen wird.

Schon in seinem Neo-Noir-Krimi »Motherless Brooklyn« (1999) erzählte Lethem von einem Privatdetektiv mit Tourette-Syndrom, der in den Straßen Brooklyns um seine Glaubwürdigkeit kämpfen muss. Und sein 2004 erschienener, stark autobiografisch geprägter Roman »Festung der Einsamkeit« handelt von einem weißen Jugendlichen, der in den ausgehenden 70er Jahren gezwungen ist, sich in Brooklyn auf der Straße zu behaupten, und damit regelmäßig scheitert – bis er als junger Punk durch Manhattan stromert und seine Befreiung erlebt. Dieser 700 Seiten starke Roman, der von urbaner Subkultur, der Entstehung der Rap-Musik auf Schulhöfen und linken Künstlern zwischen Street Credibility und Rassismus erzählt, wurde zu Recht von der Kritik hymnisch gefeiert.

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Lethem galt vor 20 Jahren als einer der wichtigsten Nachwuchsautoren in den USA und wurde von Kritikern gerne in einem Atemzug mit Don DeLillo genannt. Der andere wichtige Brooklyn-Autor jener Jahre, Colson Whitehead, der mittlerweile regelrecht in Literaturpreisen schwimmt und zu einem außergewöhnlichen Chronisten des schwarzen New York wurde, war damals eine eher randständige Figur.

Nun hat Lethem, um den es in den vergangenen Jahren etwas stiller geworden war, wieder ein ziegelsteindickes Buch über seinen Bezirk geschrieben, das motivisch direkt an »Festung der Einsamkeit« anschließt. »Der Fall Brooklyn« wird als Roman gelabelt, ist aber eher eine Sammlung von über 120 literarischen Vignetten, die zum Teil fast reportageartig, aber auch essayistisch über das Leben in dem Stadtteil von den 60er Jahren bis heute berichten.

Im Zentrum stehen Jugendliche aus der Dean Street, wo Lethem aufwuchs und sein Roman »Festung der Einsamkeit« angesiedelt ist. Es geht vor allem um die Rolle der linken, subkulturell geprägten weißen Familien, die in diese heruntergekommenen Kieze zogen. Waren diese Umzüge des weißen Bildungsbürgertums in eine damals von Schwarzen und Puerto Ricanern dominierte Gegend ein Stück Kulturimperialismus, quasi die Grundsteinlegung für die nachfolgende Gentrifizierung?

Die weißen Eltern engagierten sich in den Kiezen, blieben aber oft unter sich in einer eigenen kulturellen und sozialen Blase. Für ihre Kinder bedeutete das Leben im Viertel aber nicht selten einen Spießrutenlauf. Lethem nennt das den »Tanz«, der aufgeführt wurde, wenn den besser gestellten (weißen) Heranwachsenden von älteren schwarzen Jugendlichen immer wieder mal etwas abgenommen wurde, sei es ein Stück Pizza, Kaugummi oder ein wenig Kleingeld. Der im Socken versteckte Dollar, den die Eltern schließlich mitgaben, um sich im Fall des Falles »freizukaufen«, wurde zum festen Bestandteil einer sozialen Ordnung.

Doch wem wird hier etwas weggenommen? Wer eignet sich etwas an? Nehmen sich die weißen Eltern gleich ganze Immobilien und Straßenzüge? Und die schwarzen Kids ein Stück Pizza oder etwas Kleingeld? Diese Fragen stellt Lethem sinngemäß immer wieder und wartet mit dramaturgisch durchkomponierten Antworten auf, die er mit Brooklyner Anekdoten auffächert wie einen Blumenstrauß.

Es geht um jugendliches Rebellieren, aber in verschiedenen sozialen Sphären. In einem sachbuchartigen Abschnitt geht Lethem auch auf die damals kolportierten Meldungen in den Medien über gefährliche schwarze Jugendliche ein. Statistisch gesehen, weiß er zu berichten, gab es in den Jahren 1973 bis 1981 indes viel weniger Kriminalität nicht weißer Jugendlicher als zuvor. Stattdessen wurden sie vermehrt Opfer von Straftaten durch weiße Jugendliche. Doch wirkliche Verbrechen gibt es auf diesen 450 Seiten eh kaum, wenngleich ganz am Ende zwei Geschichten schrecklich ausgehen.

Neben diesem Abgleich vermeintlich gefühlter Ereignisse mit der sozialen Realität erzählt Lethem von den Familien, die sich in dem Viertel günstig Wohnraum kauften. Die Brownstones, die historischen Sandstein-Wohnhäuser, für die Brooklyn berühmt ist, wurden zu begehrten Immobilien, die seitdem absurd anmutende Wertsteigerungen erlebten. Die Hippies von damals wurden so zu Millionären. Die Dean Street inmitten des heute so beliebten und hippen Viertels Boerum Hill in Brooklyn avancierte zu einem Paradigma immobilienwirtschaftlicher und kultureller Aufwertung. »Du hast die Gentrifizierung gentrifiziert«, wirft ein Bewohner Brooklyns einem in die Jahre gekommenen Autor überspitzt vor, als der seine alte Heimat besucht, über die er ein Buch geschrieben hat.

Die Figuren von Lethem haben keine Namen, höchstens einen Buchstaben als Abkürzung, oder werden nach Eigenschaften benannt. Da gibt es die »Schreierin«, die ständig am Fenster steht und nach draußen brüllt. Oder den »Schwätzer«, der in einer Kneipe herumhängt und alles besser weiß. Der »Millionär« ist ein Weißer mit Koteletten und einer stets betrunkenen Künstlerin als Ehefrau, der in der Dean Street seinen protzigen BMW einfach vor der Tür parkt, ohne dass dieser aus unerfindlichem Grund dort beschädigt wird.

Mit fortlaufender Lektüre verdichtet sich dieses Buch zu einem großen Opus über Brooklyn, in dem die Entwicklung aller möglichen Figuren über die Jahrzehnte hinweg erzählt wird. Eine Erzählweise, die wieder entfernt an John Dos Passos’ berühmten Roman »Manhattan Transfer« (1925) erinnert. Dabei ist »Der Fall Brooklyn« nicht einfach nur die Chronik eines angesagten Viertels, sondern ein Roman über die sozialen, kulturellen und politischen Mechanismen einer Großstadt, die so noch nicht erzählt wurden. Jonathan Lethem ist ein außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, und eine eigenwillige und persönliche Liebeserklärung an Brooklyn.

Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn. A. d. amerik. Engl. v. Thomas Gunkel. Klett Cotta, 448 S., geb., 26 €.

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